31. Juli 2016

"Von einer gescheiterten Koordination kann nicht die Rede sein"

Aha, der Bundesrat macht also inhaltslose Symbolpolitik und jagt dem Mythos des nationalen Zusammenhalts nach, statt sich an lernwissenschaftliche Fakten zu halten. So lautet, auch im «Tages-Anzeiger», das überwiegende Deutschschweizer Echo auf den Bundesratsentscheid, die Kantone nötigenfalls zum Französisch in der Primarschule zu zwingen. Das ist zu kurz gedacht.
Ariane Gigon ist Deutschschweizkorrespondentin der Freiburger Zeitung "La Liberté" und wohnt in Zürich, Bild: Tages Anzeiger
Es geht um mehr als "Symbolik", Tages Anzeiger, 30.7. von Ariane Gigon

Zunächst: Es geht nicht darum, wie manche Kommentatoren schreiben, Frühfranzösisch neu einzuführen. Französisch ab der 5. Klasse ist in der Deutschschweiz in den 80er-Jahren eingeführt worden. Die Strategie der Erziehungsdirektorenkonferenz mit zwei Fremdsprachen, davon eine Landessprache, in der Primarstufe ändert für Französisch in der Mehrheit der Deutschschweizer Kantone gar nichts. In den sechs Kantonen an der Sprachgrenze wurde es in die 3. Klasse vorgezogen. Die Strategie ist in 23 von 26 Kantonen Realität. Von einer «gescheiterten» Koordination kann nicht die Rede sein.
Neue Perspektiven öffnen
Jetzt hört man aber in der Deutschschweiz, es sei ja nicht so schlimm, wenn ein Kanton vom gemeinsamen Weg abweiche, das könne doch nicht die «nationale Kohäsion» in Frage stellen, der Streit sei nur «symbolisch».

Das ist aus zwei Gründen falsch: Erstens will nicht nur der Thurgau seine Sprachenstrategie ändern. Bestrebungen sind auch in anderen Kantonen im Gange, wie Luzern und Zürich. Weitere dürften dazukommen. Wichtiger ist aber der zweite Grund: Es ist nicht bloss eine «Symbolfrage», miteinander in einer unserer Landessprachen reden zu können. Es ist wirtschaftlich interessant, persönlich bereichernd und öffnet allgemein neue Perspektiven. Es macht Spass, eine andere Sprache zu lernen, egal welche. Natürlich gibt es mehr oder weniger begabte Leute, wie in jedem Fach, und mehr oder weniger motivierte Lehrkräfte – das alles macht viel aus. Es ist immer möglich, Lernpläne und Methoden zu verbessern.
Gegen Frühfranzösisch wird auch ins Feld geführt, es bleibe bei den Kindern nichts davon hängen, an der Oberstufe müsse wieder bei null begonnen werden. Wieso sagt man aber nie, dass der Mathematikunterricht nicht funktioniert, obwohl viele von uns ein paar Jahre nach der obligatorischen Schulzeit nichts mehr von Trigonometrie wissen?

Studien sind widersprüchlich
Ja, es gibt die Studien, die den Wert des Spracherwerbs in der Primarschule infrage stellen. Es gibt aber auch viele andere, die den Nutzen durchaus nachweisen. Was man aber ohne Studie klar sagen kann: In der Pubertät mit Französisch zu beginnen, und dazu noch intensiv, wie die Thurgauer es vorschlagen, führt, wenn man noch Deutschlektionen und Englisch dazuzählt, zu einer Sprachenüberbelastung der Schülerinnen und Schüler. Es ist kein Zufall, dass die Industrie- und Handelskammer Thurgau sich gegen die Abschaffung des Frühfranzösisch in der Primarschule wehrt, weil das die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer an der Oberstufe schwächen würde.

Nein, die «frankofone Bildungselite» hat keine Mühe, den rasanten Bedeutungsverlust des Französischen in der heutigen Welt zu verkraften. Darum geht es nicht. Überall in Europa bemüht man sich, die Schulprogramme so anzupassen, dass so schnell wie möglich zwei Fremdsprachen unterrichtet werden. Überall in Europa und in der ganzen Welt wird die Schweiz für ihre Sprachkenntnisse bewundert. Und das sollte nur «symbolisch» sein? Das zu behaupten ist ein Affront, nicht primär gegen die Westschweiz oder gegen das Tessin, sondern gegen die «Willensnation» an sich und auch gegen die Fähigkeiten – und die Zukunft – der Kinder.


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