16. April 2015

Zu viele Therapien - zu wenig Erziehung

Immer wieder sorgen Jugendliche, die in der Schule querschlagen, für Schlagzeilen. In den meisten Fällen fehlt es den Kindern nicht an Behandlung, sondern an Erziehung.
Bei uns gibt es zu viele Therapien und zu wenig Erziehung, NZZaS, 12.4. von Sefika Garibovic


Kinder kommen nicht als schwererziehbare Wesen auf die Welt. Sie werden durch uns Erwachsene positiv oder negativ beeinflusst. Und eigentlich wäre Erziehung ganz leicht. Sie benötigt Zuwendung der Eltern, Zeit, Präsenz und die Bereitschaft, Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken. Eine emotionale Eltern-Kind-Bindung ist eminent.
In unserer Gesellschaft geht Kindererziehung leider oft vergessen. Heutige Eltern sind Einzelkämpfer, sie wollen sich selber verwirklichen und delegieren die Erziehung gerne an die Schule. Viele Eltern befinden sich auch im Irrglauben, Kinder sollten von der Erwachsenenwelt nichts mitbekommen. Das ist falsch. Auch ein konstruktives Feedback von Erwachsenen ist für die Kinder wichtig, wenn sie das nicht erhalten, können sie sich nicht entwickeln. Wer sich nicht auseinandersetzen will mit seinem Kind, vernachlässigt es. Diese Vernachlässigung erfolgt oft unbewusst. Plötzlich aber sind die Kinder gross, machen, was sie wollen, kennen weder Grenzen noch Werte noch Normen. Kurz: Es sind Tyrannen.
Ein gesundes Kind lernt in Familien mit alten Werten und Normen ganz automatisch. Man muss dem Kind beibringen, dass es sich unterzuordnen hat. Die Eltern müssen das Kind führen, ihm zeigen, was geht und was nicht. Ein kapitaler Fehler von Eltern, denen die Kinder aus dem Ruder laufen, ist der, dass keine wirkliche Eltern-Kind-Hierarchie besteht. Die Eltern sind Zuschauer oder - noch schlimmer - Partner. Wichtig ist aber, dass die Eltern lernen, sich mit ihren Kindern zu konfrontieren. Viele tun das nämlich nicht oder viel zu wenig, aus Angst, die Liebe ihrer Kinder zu verlieren. Oder aus reiner Bequemlichkeit.
Ich werde oft geholt, wenn Schule, Elternhaus, Pflegeeltern, Heime und Psychologen nicht mehr weiterkommen. Wenn Jugendliche nach jahrelangen Therapien, Abklärungen und Fremdplacierungen seelisch so kaputt sind, dass niemand mehr mit ihnen klarkommt. Wenn Kinder zu mir geschickt werden, dann räume ich - vereinfacht gesagt - zuerst auf. Alle parallel laufenden Therapien müssen abgestellt werden, und dann brauche ich mindestens einen aktiven Elternteil, einen Gemeindevertreter oder einen Jugendanwalt. Der Jugendliche soll zurück in eine öffentliche Schule, zurück in die Familie und dort selbständig leben. Wenn der Auftraggeber, meist die Schulbehörde, einlenkt, beginne ich mit der Nacherziehung. Ich arbeite mit Hierarchie. Die Jugendlichen müssen lernen, sich unterzuordnen. Ein generelles Rezept gibt es aber nicht. Ein kaputtes Kind ist kein Gerät, das man nach Schema X flicken kann. Ich versuche, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen - mit Strenge, aber auch mit Liebe. Kinder spüren rasch, ob jemand nur pädagogisch Gelerntes von sich gibt oder eine echte Liebe zu ihnen aufbringt. Sie checken auch rasch: Moment mal, diese Person verlangt zwar viel, aber sie meint es wirklich ernst mit mir. Ich darf auch sagen, was ich erwarte, was ich nicht kann, wo meine Probleme sind, was mich beschäftigt. Kinder brauchen nicht nur liebevolle Eltern, sondern Eltern mit einer konsequenten Haltung. Sie müssen spüren: Ich bin für dich zuständig. Es kann nicht sein, dass ein Kind sagt, wann es zu Bett geht. Kinder müssen diese Grenzen erkennen. Meine Klienten lernen bei mir zu kommunizieren, Anstandsregeln einzuhalten, ihr Selbstwertgefühl wird gestärkt, ich mache sie auch begeisterungsfähig. Die Parasitenrolle müssen sie sofort ablegen.
Wir brauchen allerdings heute nicht nur fähige Eltern, sondern auch fähige Fachleute. In der Schweiz werden Kinder generell viel zu häufig in Therapien geschickt. Zudem verschreibt man den Kindern sehr oft unnötig Psychopharmaka. Statt die Ressourcen zu fördern, sucht man eher nach Mängeln beim Kind. Es gibt ein ganzes System von Helfern, die defizitorientiert arbeiten und die beschäftigt werden müssen, zum Beispiel Heilpädagogen. Sie hatten ursprünglich die Aufgabe und die Befähigung, mit geistig und körperlich Behinderten zu arbeiten. Heutzutage behandeln sie aber in unserem Schulsystem sehr oft kerngesunde, aber schlecht erzogene Kinder defizitorientiert. Das ist ein Skandal.
Dieser Teufelskreis von Abklärungen und Therapien gehört gestoppt. Auch wenn dies vielen Akteuren im System nicht gefallen mag. Das gilt auch für viele Jugendheime, in die Kinder gesteckt werden, die durch alle Maschen fallen. Aber sie werden dort nicht schulisch gefördert, und auch ihr Verhalten wird nicht verbessert. Oft nimmt sie deswegen nach ihrem Austritt niemand in eine Lehre auf. Viele dieser Jugendlichen sind nicht minder intelligent, sondern wurden schulisch zu wenig gefördert und schwererziehbar gemacht. Neben all dem Leid, das so angerichtet wird, ist diese Investition in spätere Sozialhilfebezüger und Schwervermittelbare auch eine immense Verschwendung von Steuergeldern.


1 Kommentar:

  1. Die eigentlichen Therapien im Schulbereich, die Logopädie und Psychomotorik (Psychotherapie wird vom Gesundheitswesen bezahlt) sind in den letzten 10 Jahren oder länger im Verhältnis zu den Schülerzahlen gleich geblieben, trotz Zunahme der Schüler mit anderem kulturellen Hintergrund (Deutsch als Zweitsprache). In der Stadt Zürich – wo es statistische Zahlen gibt - sind es weniger als 5% der Schüler (vor 2008 wurde die Hälfte dieser Schüler von der IV und nicht von der Schule betreut und bezahlt). Die Ursachen der Sprachstörungen sind bei jedem Kind anders gelagert und haben sicher viel mit Erziehung zu tun. Da jedoch nur 5% betroffen sind, muss man annehmen, dass Erziehungsfehler, die Sprache nur selten stark beeinträchtigen bzw. dass der Spracherwerb sehr robust ist. Die von Sprachproblemen betroffenen Schüler, wären ohne diese Therapien lebenslänglich beeinträchtig (Schulversager, Arbeitsunfähigkeit, IV-Rente usw.).

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