29. Oktober 2011

Fremdsprachenlernen: Alter ist Nebensache


Eine  kürzlich publizierte  Studie kommt zum Schluss, dass der Zeitpunkt des Beginns des Fremdsprachen-Lernens die spätere Sprachkompetenz nicht beeinflusst. Entscheidender  dagegen ist reichlicher Kontakt zur Fremdsprache.
Bis jetzt existiert noch keine Studie, welche nachweisen konnte, dass frühe Lerner eine Fremdsprache auch besser beherrschen als spätere Beginner. Ein Grund  für die Überlegenheit der älteren Lerner liegt in ihrer kognitiven Entwicklung, d.h. ihr Hirn kann mehr und schneller arbeiten.  Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass junge Lernende an unseren Schulen nicht genügend  Kontakt zur Zielsprache erhalten um die Vorteile ihres Lernmodus ausschöpfen zu können. Gleichwohl wurde in vielen europäischen Ländern (darunter auch der Schweiz) das Alter für den Beginn des Fremdsprachenunterrichts an der Volksschule markant gesenkt. Carmen Munoz von der Universität Barcelona untersuchte nun die Frage, ob frühe schulische Sprachenlerner ihre Kollegen, die später mit den Fremdsprachen beginnen, im Laufe der Zeit auch ein- bzw. überholen können. Falls dies der Fall ist, dann wäre damit nachträglich eine wichtige Legitimation für die Vorverlegung geschaffen. Aus Mangel an empirischen Daten machten Befürworter eines frühen Beginns bisher geltend, dass erst die längerfristige Entwicklung entscheidend für den Erfolg der neuen Frühsprachenprogramme sein könne.
Viel Kontakt bei jungem Alter
Verschiedene Studien weisen nach, dass  bei ausserschulischem Erwerb (z.B. Migranten in einer neuen Sprachumgebung) tatsächlich die Jungen die Alten nach einer bestimmten Zeit sprachlich überholen. Dieser Prozess kann aber Jahre dauern. Doch wie verhält es sich beim Sprachenlernen in der Schule? Offensichtlich handelt es sich dabei um etwas grundsätzlich anderes.  Basierend auf den verfügbaren Untersuchungen bei ausserschulischem Lernen in der neuen Sprachumgebung und umgerechnet auf die viel kürzere Kontaktzeit an unseren Schulen kommt Munoz zur bizarren Feststellung, dass es bei fünf Wochenlektionen Fremdsprachen-Unterricht – bei uns ein indiskutabel hoher Wert – ganze 245 Jahre dauern würde, bis sich ein früher Start auszahlte. Dieser Vergleich zeigt uns, wie entscheidend eine hohe Kontaktzeit für den Erfolg des frühen Sprachenlernens ist.
Langzeitstudie
Das Besondere an der im Sommer publizierten Arbeit ist, dass Munoz die Kompetenzen von Sprachlernern in einer Langzeitstudie vergleicht. Bisher zeigten Untersuchungen, welche die Lernenden nach acht Jahren Unterricht verglichen, keinen nennenswerten Vorteil  für die Frühlerner (vgl. dazu das Barcelona Age Factor project). Auch weitere Studien kamen für die Promotoren des frühen Fremdsprachen-Unterrichts zu ernüchternden Ergebnissen. Munoz konnte nun die Beobachtungsfrist auf durchschnittlich 14 Jahre ausdehnen. Sie liefert damit wichtige Grundlagen für die Beurteilung der Frage, ob sich früher Fremdsprachen-Unterricht langfristig auswirke. Bei den getesteten Personen handelt es sich um spanische Englischstudenten, welche durchschnittlich 14 Jahre Englischunterricht genossen haben. Unter den getesteten Personen befanden sich sowohl Früh-, wie auch Spätstarter. Die Resultate zeigen, dass keine Korrelation hergestellt werden kann zwischen einem frühen Beginn und den gemessenen Sprachkompetenzen. Gleichfalls wurden die Leistungen von Früh- und Spätstartern miteinander verglichen. Auch hier gibt es keine signifikanten Unterschiede in der Sprachkompetenz. Es existiert also keine lineare Beziehung zwischen frühem Lernen und Erfolg oder anders ausgedrückt, ein späterer Beginn führt genauso zum Erfolg wie ein früher. Der Beginn des Fremdsprachen-Unterrichts an den Schulen hat also keine Auswirkung auf die längerfristigen Sprachkompetenzen. Diese Befunde gelten übrigens übereinstimmend für alle drei gemachten Tests zur Sprachkompetenz (General English, Lexis und Lauterkennung).
Qualität des Kontakts wichtiger als Beginn
Eine weitere Erkenntnis bezieht sich auf die Lernzeit: Mehr Zeit führt zu besseren Kompetenzen. Während also das Alter bei Lernbeginn kein verlässlicher Faktor für die Sprachkompetenz ist, zeigen die Resultate der Studie, dass die Lernzeit (inklusive formellem und informellem Kontakt zur Sprache) signifikant korrelieren mit der gemessenen Sprachkompetenz. Die zur Verfügung stehende Zeit ist laut der Studie wichtiger als der Zeitpunkt des Beginns. Die Lerner benötigen ausgiebigen, qualitativ hochstehenden Kontakt zur Zielsprache. Die Erwartung, ein früher Beginn sei der wichtigste Aspekt für erfolgreiches Sprachenlernen, reicht deutlich nicht.

Die Ergebnisse der erwähnten Studie kontrastieren stark zur Realität des Schweizer Sprachenkonzeptes. Aufgrund hirnbiologischer Annahmen setzt man hier auf einen möglichst frühen Fremdsprachen-Unterricht. Dabei wird übersehen, dass wöchentlich bloss 2-3 Lektionen dafür zur Verfügung stehen. Alle Experten sind sich einig, dass diese über fast die gesamte Schulzeit verteilte, karge Lektionszuteilung  keine Fortschritte gegenüber einem späteren Beginn bringen kann. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob sich die gewaltigen Anstrengungen im Zusammenhang mit der Vorverlegung des Fremdsprachen-Unterrichts auch wirklich auszahlen werden. Die Studie aus Spanien legt dazu nun erstmals  Langzeitdaten vor. 
Urs Kalberer
Carmen Munoz, Professorin an der Universität Barcelona

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