Die
Schweizer Bildungsdirektoren scheinen nur ein Thema zu kennen: frühe Fremdsprachen.
Aber wie steht es mit dem korrekten Frühdeutsch? Eine Studie der Universität
Freiburg lässt aufhorchen.
Schlecht- oder rechtschreiben? journal21.ch, 16.8. von Carl Bossard
„Noch eine
verspätete schriftliche Entschuldigung für das ich am Mittwoch 31.10. Krank
wahr.“ Ein Schreiben auf Fachhochschulstufe. Originalton und leider kein
Einzelfall. Ein anderer Studierender liegt mit Grippe im Bett, meldet sich ab
und fügt bei: „Ich hoffe auf Ihr Verständtniss und möchte mich viel mals
entschuldigen.“
Mangelnde
Rechtschreibekompetenz
Zwei
Beispiele mit gravierenden orthografischen Defiziten. Nach mindestens zwölf
Schuljahren. Wer hinsieht, weiss es schon lange: Viele Schulabgänger zeigen
spürbare Lücken im Rechtschreiben. (1) Doch allzu viele sehen weg oder
beschönigen. „Schweizer Kinder machen deutlich mehr Fehler als deutsche undösterreichische“, tituliert die Aargauer Zeitung in der Ausgabe vom 10.8.2016eine Studie der Universität Freiburg.
Untersucht
wurden 1'650 Primarschüler im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg. Die
Ergebnisse decken sich mit einer Studie im Kanton Solothurn und einer
repräsentativen Stichprobe im Kanton Bern. „Beim Schreiben von Wörtern mit
orthografischen Besonderheiten wie Dehnungen, Verdoppelungen oder ‚tz‘
schnitten die Freiburger Kinder bereits ab der 2. Klasse signifikant schwächer
ab als die deutschen“, gibt der Studienverantwortliche Professor Erich Hartmann
zu bedenken.
Rechtschreibung
auf später aufschieben
Die Gründe
für die schwächeren Leistungen von Schweizer Kindern in der Rechtschreibung
vermutet der Wissenschaftler im Unterricht und in den Lehrmitteln.
Lautorientiertes und freies Schreiben stünden im Vordergrund. Das geht auf
Kosten der korrekten Orthografie. Sie ist in den Hintergrund getreten. Nach
Meinung vieler Unterstufen-Lehrpersonen lässt sie sich später leicht nachholen.
Zudem blockiere das Korrigieren die kindliche Motivation und Kreativität und
zerstöre gar die Lust am spontanen Schreiben. Man will die Kleinen zu
furchtlosen Schreibern heranbilden. Üben und Wiederholen, diese uralten
Prinzipien aus der Zeit vor den reformpädagogischen Innovationen, scheinen
überholt.
Doch die
Studie des Logopäden Hartmann zeigt, dass die Freiburger Schüler selbst in der
6. Klasse noch klar schwächer abschneiden als die deutschen Schüler. Dabei
beherrscht in Deutschland nur jeder fünfte Neuntklässler die Orthografie
einigermassen sicher, wie der Sprachwissenschaftler Günther Thomé von der
Goethe-Universität Frankfurt herausfand. Die korrekte orthografische
Schreibweise stellt sich eben nicht von selbst ein. Oder mindestens nicht
genügend. Sie ist intensiv und systematisch zu erarbeiten. Hier liegt das
Problem.
Die
Schriftsprache selber lernen
Während
Jahren wurden im deutschsprachigen Raum viele Kinder nach dem Konzept „Lesen
durch Schreiben“ alphabetisiert. Entwickelt hat sie der Schweizer Pädagoge
Jürgen Reichen (1939–2009). Schüler können sich die Schriftsprache selber
erarbeiten, ähnlich wie Kleinkinder das Laufen und Sprechen erlernen, lautet
Reichens Credo. Sein Programm basiert auf einer sogenannten Anlauttabelle, dem
„Buchstabentor“. Ein passendes Bildchen illustriert jeden Buchstaben. Ein Fisch
zum Beispiel steht für das „F“. Das Konzept lässt die Kinder das Schreiben
individuell und nach eigenem Tempo lernen. Selbstgesteuert und in
Lernwerkstätten.
Mit Hilfe
dieses Buchstabentors setzen sich die Schüler „alle Wörter der Welt“ aus Lauten
zusammen. Will ein Kind etwa „Ballon“ schreiben, murmelt es die einzelnen Laute
vor sich hin und sucht die Buchstaben aus den Bildchen der Tabelle zusammen:
das „B“ von der Banane, das „A“ vom Affen und so weiter. Die Abc-Schützen
schreiben nach Gehör – wie sie es vom Klang der Worte her für korrekt halten.
Auf die Orthografie müssen sie keine Rücksicht nehmen. Vielleicht entsteht so
das Wörtlein „balon“.
Absolute
Fehlertoleranz
Die Freude am
freien Fabulieren ist oberstes Prinzip. Dabei sollen die Kinder nicht gestört
werden. Niemand darf eingreifen. Wortschatz und Grammatik werden nicht
beachtet. Fehlerhafte Formen gehören dazu. Sie würden sich später korrigieren;
das Korrekte käme automatisch, so Jürgen Reichens Annahme. Auch das Lesen soll
sich dann von alleine ergeben.
Auf ihre
Wirkung untersucht wurde Reichens Konzept erst vor Kurzem. „Die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie sind katastrophal, eigentlich
müsste ‚Lesen durch Schreiben‘ sofort verboten werden“, urteilt der
emeritierte Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers.
Ist
Rechtschreiben noch aktuell?
Ist es
entscheidend, ob es nun „Ballon“ oder „balon“ heisst? Leben wir nicht in Zeiten
von Korrekturprogrammen und Facebook-Twitter-Blog-Kommunikation? Wer so fragt,
verkennt, wie wichtig die Orthografie ist. Es geht um mehr als das „ck“ oder
das Dehnungs-h, es geht um mehr als richtiges, rasches Recherchieren im
Internet, es geht letztlich auch ums Lesen.
Wer nicht
weiss, wie man schreibt, hat Mühe mit Lesen. Er muss mühsam entziffern und
bleibt auf der Ebene des Worterkennens stecken – und damit letztlich
Analphabet. In der Schweiz zählen 15 Prozent der 15-jährigen Schulabgänger
dazu.
Feedback
als Lerneffekt
Gutes Lesen
und orthografisch korrektes Schreiben basieren auf prozeduralem Lernen. Kinder
lernen rechtschreiben so, wie sie Tennis oder Klavier spielen lernen. Es ist
ein Lernen durch Ausprobieren, Korrigieren und Wieder-Ausprobieren.
Entscheidend für den Lernerfolg sind systematische Lernkontrollen und das
persönliche Feedback des Lehrers. John Hatties umfangreiche Meta-Studie (2)
spricht dem Feedback einen hohen Effektwert zu. Bei „balon“ müsste die Lehrerin
lenkend eingreifen und ihren Schützling auf die Grossschreibung des Nomens und
die Konsonantenverdoppelung hinweisen. John Hattie redet von „direkter
Instruktion“. Auch ihr ordnet der Bildungsforscher einen starken Lernerfolg zu.
Was
Hänschen nicht lernt
Der Spass an
der Sache vertrüge keine Korrekturen, lautet Reichens Devise. Doch die
Fehlertoleranz zahlt sich für viele Schülerinnen und Schüler nicht aus. Hat
sich die falsche Art zu schreiben einmal eingeprägt, kommt man in der Regel nur
mühevoll davon los. Sie nach zwei, drei Jahren zu korrigieren ist ebenso
schwierig wie eine falsche Fingerhaltung beim Klavierspiel – und natürlich viel
komplizierter, als gleich zu Beginn korrekt zu schreiben.
Unterlassene
Hilfeleistung
Wenn die
Verfasser der beiden Eingangssätze nach den Programmen „Lesen durch Schreiben“
oder „Schreiben nach Gehör“ unterrichtet wurden, versteht man die Fehlerquote.
Nur darf man hier nicht von didaktischer Methode reden, sondern von
unterlassener Schreibhilfe. Die zwei Textpassagen reden Klartext – ebenso die
Freiburger Studie. Unsere Kinder verdienen einen nachhaltigeren
Rechtschreibeunterricht.
(1) Der Beitrag beschränkt sich auf die Orthografie und lässt
Aspekte wie Textkohärenz weg – im Wissen, dass Rechtschreibung nur ein Teil
guter Sprache ist.
(2) Der Bildungsforscher John Hattie von der Universität
Melbourne untersuchte während Jahren messbare Fachleistungen von Schülern,
sogenannte „achievements“. Seine Frage: „What works best?“ Was wirkt in der
Schule nachhaltig und besitzt eine Effektstärke?
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