17. Juli 2016

Tendenz zu Nachteilsausgleich steigend

Schüler mit Handicaps können an Prüfungen vermehrt auf Erleichterungen zählen. An Berufs- und Mittelschulen gibt es für Schüler mit Beeinträchtigungen immer öfter Sonderregeln an Prüfungen. Die Grauzone sei gross, sagen Kritiker.
Klausuren sind für Schüler mit Lese- oder Rechenschwäche eine besondere Herausforderung, Bild: Peter Cade
Mehr Hilfe für schwache Schüler, NZZaS, 17.7. von René Donzé


Der Jugendliche schreibt so ungelenk, dass man seine Texte kaum entziffern kann. Prompt fällt er bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium durch. Schon vor der Prüfung verlangte der Vater vergeblich, dass sein Sohn diese mithilfe eines Computers absolvieren darf. Er kämpft bis vor Bundesgericht und erhält recht: Die Richter ordnen aufgrund der sogenannt visuomotorischen Störung des Jugendlichen eine Wiederholung in den Fächern Deutsch und Französisch an – mit einem Computer als Schreibhilfe.
Nachteilsausgleich nennen sich solche Massnahmen, mit denen Behinderungen kompensiert werden. Das können Hör- oder Sehbehinderungen sein, aber auch weniger klar messbare Handicaps wie Dyslexie und Legasthenie (Lese- und Schreibschwächen), Dyskalkulie (Rechenschwäche) oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS). Als Kompensation dürfen die Betroffenen je nachdem länger an ihren Prüfungen arbeiten, dazu beruhigende Musik hören oder ein Wörterbuch oder Taschenrechner beiziehen. Basis für diese Massnahmen ist das Behindertengleichstellungsgesetz.

Die Tendenz zu solchen Sonderregelungen ist steigend. Dies ergibt eine noch laufende Erhebung der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) bei Berufsschulen und Mittelschulen: «Bei einer ersten Analyse zeigt sich, dass es eine Zunahme der Nachteilsausgleiche in der ganzen Schweiz gibt», sagt Pia Georgi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der HfH.

Bis zu fünfmal mehr Fälle
Der Kanton St. Gallen etwa verzeichnete 2011 noch 33 Anträge, vier Jahre später waren es bereits deren 144. In Bern verdoppelten sie sich von 2012 bis 2015 auf 215 Anträge. Im Kanton Basel-Stadt verfünffachten sich die Gesuche in zwei Jahren auf 272. In anderen Kantonen (GR, SZ, SO) hingegen stagnierten sie bei etwa einem bis zwei Dutzend. Fast die Hälfte aller Fälle betreffen Legasthenie und Dyslexie. Für den Kanton Zürich hat die Wissenschafterin noch keine Zahlen erhalten. Rektoren von Gymnasien schätzen auf Anfrage, dass 1 bis 2 Prozent ihrer Schüler Ausgleichsmassnahmen erhalten. An der KV Zürich Business School sei kein grosser Anstieg spürbar. Anders an den Hochschulen: Sowohl die Universität Zürich als auch die ETH gewähren heute markant mehr Ausgleichsmassnahmen für ihre Studierenden als noch vor wenigen Jahren.

Grund für den Trend ist die Absicht, möglichst vielen jungen Erwachsenen den Abschluss einer Lehre oder einer Matur zu ermöglichen. Nachdem zuerst an den Primar- und Sekundarschulen die Integration von Schülern mit Beeinträchtigungen gefördert wurde, sei das Thema nun auch in den Mittel- und Berufsschulen in den Fokus gerückt, sagt Theo Ninck, Vorsteher des Berner Mittelschul- und Berufsbildungsamtes. Dabei gehe es nicht um Erleichterungen bei den Prüfungen. «Lernziele dürfen nicht reduziert werden. Aber es dürfen Hilfsmittel zur Erreichung gewährt werden», sagt Ninck. Im Kanton Bern wurde dies letztes Jahr rund 1,6 Prozent der Maturanden und 2,5 Prozent der Lehrlinge bei ihren Abschlussprüfungen zugestanden. Diese Entwicklung hat aber auch ihre Kehrseite, sagt Jürg Raschle, Generalsekretär des Bildungsdepartementes des Kantons St. Gallen. Leider werde das Thema bisweilen auch benutzt, um über die Prüfungsbewertungen zu feilschen. Aus seiner Sicht ist die Grauzone zwischen wissenschaftlich fundierten und angeblichen Nachteilen gross. Auch der St. Galler Berufsfachschulberater Serge Ludescher sagt: «Man muss aufpassen, dass ein Nachteilsausgleich nicht zum Vorteil gegenüber anderen Lernenden wird.»

Bildungsnähe als Vorteil
Umso wichtiger sei es, sagen verschiedene Fachleute, dass man sich bei den Entscheiden auf professionelle Gutachten abstütze. Zudem gebe es auch Grenzen: So dürfe es bei berufsrelevanten Nachteilen keinen Ausgleich geben. Zum Beispiel muss, wer Kaufmann lernen will, auch gut rechnen können. Eine schwere Dyskalkulie muss in diesem Beruf nicht kompensiert werden, entschied kürzlich die Verwaltungs-Rekurskommission des Kantons St. Gallen. Grundsätzlich aber sei der Nachteilsausgleich eine gute Sache, sagt Ludescher. «Wir informieren heute aktiver über diese Möglichkeit.» St. Gallen gilt diesbezüglich als Vorreiter-Kanton.

Solche Initiativen begrüsst auch die Wissenschafterin Pia Georgi von der Hochschule für Heilpädagogik. Es sei wichtig, dass die Schulen auf den Nachteilsausgleich aufmerksam machten. «Das erhöht die Chancengleichheit», sagt sie. Denn es stellt sich die Frage, ob heute nicht vor allem gut gebildete Eltern solche Ausgleiche für ihre Kinder einfordern, weil sie um diese Möglichkeit wissen. Ein Eindruck, den auch Mittelschulrektoren teilen. Dem wollen Georgi und ihre Kollegin Claudia Schellenberg in ihrer Studie auch noch nachgehen. «Es ist denkbar, dass es hier gewisse Einflüsse gibt», sagt die Wissenschafterin.

Zudem soll der langfristige Effekt der Massnahme untersucht werden. Dem eingangs erwähnten Jugendlichen hat der juristische Kampf seines Vaters indes nichts genützt: Er ist zur erneuten Aufnahmeprüfung gar nicht mehr angetreten.


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