Gescheitertes Modell implementieren? Bild: Kanton Appenzell Ausserrhoden
Back to the future! NZZ, 25.11. von Ralph Fehlmann
Der kompetenzorientierte Lehrplan 21 führt ein neues Paradigma des
Unterrichtens in die Volksschule ein. Vor einigen Jahren war es noch
verheissungsvoll. Nun hat es von seinem Glanz verloren. In vielen Ländern ist
es bereits am Scheitern.
Ueken,
Fricktal, 1971, Mittelstufe. Mein erster Einsatz als Primarlehrer. Meine
Schüler und ich. (Nicht einmal ein Lehrbuch.) Ein Abenteuer mit zum Teil
unsicherem Ausgang. Sie lernen aus der Attraktivität und den Schwierigkeiten,
die meine Themen und Fragestellungen ihnen bieten. Ich lerne, indem ich sie auf
ihren grundverschiedenen Lernwegen beobachte. Überraschungen sind dabei der
Normalfall. Am Schluss haben sie viel gelernt – was sie mir noch Jahre später
bestätigen.
Fachliche
und überfachliche Kompetenzen und lokales, also erfahrbares Wissen. Aber nicht
jeder genau dasselbe – denn es ist für mich nicht planbar, was sie anregen
wird. Und also nicht mit exakt voraussagbaren Ergebnissen. Eine Situation, die
sie und mich vor grosse Herausforderungen stellt. Die sie und ich gern meistern
– denn Kinder sind begierig auf Lernen, und ich bin fasziniert von dieser
pädagogischen «Zumutung». Im unteren Stockwerk unterrichtet meine Kollegin,
ebenfalls erstmals im Einsatz, die Unterstufe. Sie macht es ganz anders als
ich. Aber auch bei ihr lernen die Schüler eine Menge.
Ein Paradigmenwechsel
X,
irgendwo in der Deutschschweiz, 2021. Loyal folge ich dem neuen Lehrplan. Aber
alles, was die Uekener Schulstube ausmachte, ist verschwunden: Zuerst einmal
der Unterricht in seiner ganzheitlichen Gestalt (im Sinne der
Gestaltpsychologie). Er ist atomisiert in 4000 Staubteilchen, Kompetenzen
genannt, die ich meinen Schülern antrainiere, in der Hoffnung, möglichst bald
objektiv messen zu können, wie das Training anschlägt. – Dann die Schülerinnen
und Schüler – in ihrer Individualität. Sie sind nicht Selbstzweck in ihren
seltsamen Lernwegen, sondern ein Bündel optimierbarer Kompetenzen, und was mich
interessieren soll, ist ihr «Output».
Vergessen gegangen ist, dass die
vielleicht wichtigste aller Schulreformen im Westen darin bestand, auch junge
Menschen im Sinne Kants immer als Selbstzweck zu denken und nicht als Mittel
zum Zweck – nämlich damals ergebene Staatsdiener zu werden und heute universal
einsetzbare, flexible Marktteilnehmer. – Verschwunden bin aber auch ich selber
als Pädagoge, als freier Gestalter eines für die Lernenden faszinierenden
Inputs. Denn das Korsett der 4000 Kompetenzen meines Lehrplans ist erstickend
eng. Dafür habe ich die ganz unpädagogische Hybris entwickelt, zu meinen, ich
hätte das Lernen im Griff; und zu behaupten, dass die Schüler am Schluss über
diese Kompetenzen wirklich verfügen. (Ginge es «nur» um Wissen, wäre übrigens
diese Behauptung nicht gleichermassen vermessen.) Und schliesslich ist der
spezifische, nicht austauschbare Inhalt verschwunden, dessen Reiz meine Schüler
damals antrieb. Hier ist nun jeder Inhalt recht, wenn ich nur an ihm bestimmte
Kompetenzen vermitteln kann. – Meine Kollegin macht übrigens im untern
Stockwerk dasselbe. Und die in Schaffhausen auch.
Diese
Gegenüberstellung will nicht nahelegen, dass wir «zurück zur guten alten Zeit»
gehen sollen. Aber dass das, was an der alten Zeit gut war, zukunftsweisender
sein könnte als das Konzept, das hinter dem Lehrplan 21 steckt. Dafür gibt es
in der jüngsten Forschung unter anderen die folgenden Indizien:
Lernen
geschieht oft zufällig, besitzt eine hohe individuelle Varietät und ist deshalb
nur sehr beschränkt planbar, so lautet ein zentrales Ergebnis der
Hirnforschung. Nicht einmal Wissen lässt sich mit dem Nürnberger Trichter
abfüllen – geschweige denn Kompetenzen.
Pädagogik
und Didaktik sind dem «Flächendeckenden» (557 Seiten umfasst der Lehrplan 21),
dem «Systematischen» spinnefeind. Sie arbeiten mit dem Exemplarischen. Und
zudem mit einem reichen und interessanten inhaltlichen Angebot, in der
Hoffnung, je andere Elemente daraus würden bei je anderen Schülern zünden, sie
auf ihre eigenen Lernwege schicken.
Unterrichtsqualität
ergibt sich in allererster Linie durch die autonome Lehrperson. Hierzu sei auf
die umfassende Metastudie von John Hattie «Visible Learning» verwiesen.
Die
berühmte Studie von H. P. Klein zeigt krass den drohenden Niveauverlust unter
dem neuen Regime: Die Biologieprüfung im kompetenzorientierten deutschen
Zentralabitur lässt sich lösen ganz ohne inhaltliches Wissen zum Fach – also
ohne vorgängigen Unterricht in Biologie!
Kompetenzen
visieren Handlungen an statt zum Beispiel Reflexion, Kritik oder «blosse»
Neugierde und sind, als Unterrichts-Output in Form von Test-Handlungen, einer
Messung ungleich zugänglicher als diese. Das kann fatale Schul-Rankings zur
Folge haben und kurbelt zudem einen milliardenschweren Bildungsmarkt an.
Jetzt die Konsequenzen ziehen
Wollen
wir wirklich dieses Modell der Standard- und Kompetenzorientierung
implementieren, nachdem es gescheitert ist etwa in den USA, in Österreich und
Deutschland? In den USA versucht man, heftig Gegensteuer zu geben, seit selbst
die American Evaluation Association und ihre Standardisierungspäpstin, Diane
Ravitch, das Scheitern eingeräumt haben. Es hat sich damit in aller
Deutlichkeit als nicht zukunftstauglich erwiesen. Ersparen wir unsern Schülern
und Lehrern – und nicht zuletzt den Steuerzahlern – diesen Umweg auf dem Weg in
die Zukunft.
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