Kinder sind verspielt, aktiv, haben Freundinnen und Freunde, lachen gern
– und ja, sie dürfen auch kreischen und schreien. Doch das ist eine
Wunschvorstellung. Die Realität ist eine andere – und auch die ist erst mal gar
nicht negativ. Der deutsche Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort hat sie
treffend beschrieben: «Kinder sind nicht nur glücklich, sie sind nachdenklich,
fröhlich, verzweifelt – sind alles, was Erwachsene auch sind.» Dies zu
akzeptieren, wäre schon einmal die halbe Miete im Umgang mit Kindern. Sie
können auch mal traurig, niedergeschlagen, depressiv sein. Aber dann brauchen
sie eine helfende Hand, eine liebende Mutter, einen fürsorglichen Vater oder
gute Freunde.
Lasst Kinder Kinder sein, Tages Anzeiger, 15.11. von Matthias Meili
Was diese Kinder sicher nicht brauchen, sind Psychiater und
Antidepressiva. Aber Zeit und Raum, um sich die Welt spielerisch anzueignen,
wie es ihrem Alter entspricht – davon können sie nicht genug haben. Plus
vielleicht eine Aufgabe, die sie fordert und anregt. Michel Seiler, der eine
Stätte für schwierige Jugendliche im hintersten Emmental führt, sagt:
«Holzhacken ist heilsam.» Es braucht Kraft und Bewegung, man riecht das Holz,
erlebt die Natur und lernt erst noch Bruchrechnen.
Kinder im Psychiatrienotfall
Doch diese heile Welt hat längst Risse. Immer mehr Kinder und
Jugendliche sind von Burn-out betroffen, die Anzahl der Depressionen bei den
Jungen und Allerjüngsten wächst. Die Notfallaufnahmen in den Psychiatrien haben
sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Und selbst wenn die Suizidraten
nicht angestiegen sind: Die Trends sind besorgniserregend. Ein Malaise lässt
sich nur noch leugnen, wenn man beide Augen schliesst und die Ohren auf taub
stellt. Die klinischen Fälle sind nämlich das alarmierende Signal für ein
tiefer liegendes gesellschaftliches Problem. Es lässt sich in drei Punkten
schildern.
«Der Leistungs- und Förderwahn führt in einen Teufelskreis.»
Erstens: die leistungsorientierte Gesellschaft. Wir wollen immer das
Optimum, die besten Schulen, die
schönste Freizeit, den höchsten Lohn. Selten werden diese Anforderungen offen
ausgesprochen. Den meisten Eltern liegt es fern, gute Noten zu fordern oder gar
schlechte zu bestrafen. Doch Kinder haben ein feines Gespür für Erwartungen.
Sie riechen Belohnungen, wenn sie noch nicht einmal in Aussicht gestellt
werden. Psychiater sagen, dass sich ihre kleinen Patienten selber einem enormen
Leistungsdruck aussetzen, vor allem die Mädchen – und oft daran scheitern.
Zweitens: die leistungsorientierte Schule. Bereits im Kindergarten
werden die Fähigkeiten der Kinder in peinlich genauen Beurteilungsbogen
erfasst. Wie ist das Sozialverhalten? Wie entwickeln sich die sprachlichen, wie
die mathematischen Fähigkeiten des Kindes? Grobmotorisch, feinmotorisch? Alles
müssen die Lehrer pedantisch ausfüllen und kommentieren. Der Beurteilungsbogen
im Kindergarten erinnert eher an ein Assessment für einen Managerposten als an
die Wertschätzung für einen Dreikäsehoch.
Schwächen analysieren
Drittens: der Fokus auf Schwächen. Wo es früher bei der Berufswahl darum
ging herauszufinden, was man gerne macht, gilt es heute Schwächen und Stärken
zu analysieren. Auch das beginnt schon früh. In den ersten Schuljahren gibt es
zwar keine Noten, aber die Fixierung auf die Schwächen der Kinder sticht ins
Auge. Die Punkte mit Förderbedarf sind im Beurteilungsbogen dick orange
eingefärbt, die Stärken verschwinden unter einem blassen Grün. Das
Elterngespräch dreht sich zu drei Vierteln darum, was das Kind besser machen
kann. Und wo es nicht der Norm entspricht, wird es aus der Klasse genommen und
gefördert, mit Heilpädagogik, Psychomotorik, Ergotherapie. Doch die gut
gemeinte Botschaft kommt anders an. Wo habe ich versagt? Wo muss ich mich mehr
anstrengen?
Wenn dann noch Mobbing, der ständige Vergleichsdruck in den sozialen
Netzwerken oder gar schwierige Familiensituationen dazukommen, blocken viele
Kinder ab. Sie werden zu «Schulleichen», die keinen Millimeter vorankommen,
wenn etwas von ihnen verlangt wird. Und brauchen doch noch einen Psychiater.
Der Leistungs- und Förderwahn führt in einen Teufelskreis, der nur
durchbrochen werden kann, wenn man die Kinder wieder Kinder sein lässt – auch
in der Schule. Remo Largo, der Doyen der Schweizer Kinderärzte, prägte den
Satz, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Man reisst es
höchstens aus.
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