Diesen Sommer kommen die ersten
Jugendlichen an die Gymnasien, die bereits ab der dritten Klasse Französisch
lernen. Weil sie noch immer kaum Verben konjugieren können, musste der
Grammatikteil der Aufnahmeprüfung gestrichen werden. Nun müssen die Gymerlehrer
nachholen, was vorher nicht stattgefunden hat.
Was nicht gelehrt wurde, kann auch nicht geprüft werden, Bild: Imago
Die Gymerprüfung hat keinen Grammatikteil mehr, Berner Zeitung, 4.2. von Marius Aschwanden
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Über 14 Monate sind vergangen, seit sich Wilderswiler Eltern in einem
besorgten Brief an Erziehungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) gewandt haben.
Darin kritisierten sie, dass ihre Kinder nach vier Jahren Frühfranzösisch mit
dem neuen Lehrmittel «Mille Feuilles» weniger Sprachkenntnisse hätten als ein
Schüler nach einem Jahr mit «Bonne Chance».
Pulver riet ihnen daraufhin zur Geduld. Die Kinder würden nicht weniger,
sondern einfach anders lernen, hiess es. Mit dem gleichen Mantra versuchte er
auch Bildungsexperten zu beruhigen, die in dieselbe Kerbe schlugen wie die
besorgten Eltern.
Seither ist es in Wilderswil ruhig geworden. An ihrer Einschätzung habe
sich aber nichts geändert, sagt Brigitte Dissauer, die seinerzeit zu den
Autoren des Briefes gehörte. «Vom neuen Lehrmittel bin ich noch immer nicht
begeistert.» Die Franzkenntnisse ihrer Tochter hätten sich jedoch in den
letzten anderthalb Jahren tatsächlich stark verbessert.
«Dafür sind aber in erster Linie der Lehrer und der Fleiss meiner
Tochter verantwortlich, nicht die neue Didaktik», sagt Dissauer. Neben dem
neuen Lehrmittel hat der Lehrer denn auch anderes Unterrichtsmaterial
eingesetzt.
Gymnasien in der Pflicht
Trotzdem schaut die Mutter mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Denn
die Tochter will ins Gymnasium. Zwar wurde sie vom Lehrer dafür empfohlen.
«Aber auch wenn die Noten stimmen, hat sie andere Kenntnisse als die bisherigen
Jugendlichen. Ich hoffe sehr, dass dies die Lehrer am Gymnasium
berücksichtigen», sagt Dissauer.
Tatsächlich blickt man auch bei den Französischlehrern an den Berner
Gymnasien dem ersten Frühfranzösischjahrgang mit unterschiedlichen Gefühlen
entgegen. «Es herrscht eine skeptische Zuversicht, gemischt mit Spannung und
Neugier», sagt Fachschaftspräsident Roger Hiltbrunner.
Unter den Lehrerinnen und Lehrern sei insbesondere die Befürchtung
vorhanden, dass die Gymnasien ausbügeln müssen, was vorher nicht vermittelt
wurde: die Struktur der Sprache – beispielsweise den korrekten Satzbau oder die
Konjugation der Verben.
Denn eines ist klar: Am Ende der vier Gymerjahre müssen die Schüler auch
weiterhin das bisher geforderte Niveau B2/C1 erreichen. «Das haben die
pädagogischen Hochschulen und die Universitäten klargemacht», sagt Hiltbrunner.
Da etwa die PH Bern bei der Französischausbildung unterdotiert sei, übertrage
sie die Verantwortung für die sprachlichen Fähigkeiten der Studierenden auf die
Gymnasien. «Diese sollten das Französischniveau der künftigen
Volksschullehrkräfte quasi im Alleingang sicherstellen», so Hiltbrunner.
Anforderungen verschoben
Um das Niveau auch in Zukunft zu halten, hätten sich die Gymerlehrer in
den letzten Jahren intensiv mit dem neuen Sprachunterricht auf Primar- und Sekundarstufe
befasst. «Wir haben laufend Kontakt mit den Volksschulen und machen auch
Schulbesuche.» Dank diesem «Terrainkontakt», wie es Hiltbrunner nennt, sei aus
der anfänglichen Panik die erwähnte «skeptische Zuversicht» entstanden.
«Wir werden die Schülerinnen und Schüler dort abholen, wo sie sich
befinden», sagt der Franzlehrer. Das bedeute aber nicht, dass die Anforderungen
fürs Gymnasium gesenkt worden seien. «Anscheinend haben die Jugendlichen mehr
Mut beim Sprechen und sind flexibler beim Verstehen geschriebener Texte. Beim
Schreiben hingegen und im Hörverstehen bestehen möglicherweise Defizite.»
Insofern hätte sich die Sprachbeherrschung vermutlich nicht verschlechtert,
sondern innerhalb der Kompetenzen Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen und
Schreiben verschoben. Dem gelte es Rechnung zu tragen.
Prüfung wurde angepasst
Auswirkungen hat das Frühfranzösisch deshalb auch auf die
Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium, die jeweils im März stattfinden. Diese müssen
jene Schüler absolvieren, die nicht von ihren Seklehrern empfohlen wurden.
Bisher spielte dabei die Grammatik eine grosse Rolle. So mussten die
Jugendlichen etwa Verben konjugieren oder verschiedene Zeitformen einsetzen.
In der neuen Prüfung wurde der Grammatikteil komplett gestrichen. «Wir
können nichts prüfen, das vorher nicht so unterrichtet wurde», sagt Mario
Battaglia, Vorsteher des kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamts. Dafür
beinhalte die Aufnahmeprüfung jetzt einen mündlichen Teil.
Die Schüler müssen etwa ein Bild beschreiben, über einen Text sprechen
und ihre Gedanken dazu formulieren. «Es gelten neu einfach andere
Anforderungen, damit man ans Gymnasium gelangt», sagt Battaglia. Zudem seien
die Texte komplexer, zu welchen die Jugendlichen schriftlich Fragen beantworten
müssen.
Weniger Franzunterricht
Für die Gymerlehrer kommt ab dem Schuljahr 2017/2018 erschwerend hinzu,
dass weniger Französisch unterrichtet wird. Total wird über die vier Schuljahre
eine halbe Lektion pro Woche gestrichen. Dies geht auf eine Sparmassnahme aus
2013 zurück.
Ausserdem, so Hiltbrunner, würden die Klassen immer grösser, sodass sich
das Betreuungsverhältnis verschlechtere. «Unsere Ausgangslage ist wirklich
nicht ideal: Wir müssen mit weniger Lektionen und einem neuen Lehrmittel in der
Volksschule dasselbe Sprachniveau erreichen wie zuvor», fasst er zusammen.
Ob dies tatsächlich gelinge, werde sich frühestens in rund zwei Jahren
zeigen. Zentral sei dabei, dass den Lehrkräften genügend Freiräume und
Ressourcen gewährt würden, damit sie auf die Herausforderungen reagieren
könnten.
Für Brigitte Dissauer, die Mutter aus Wilderswil, ist allerdings klar:
«Meine Tochter und die anderen Kinder des ersten Frühfranzjahrgangs werden mehr
büffeln müssen als frühere Gymnasiasten.»
Online Kommentar von Rahel Gafner in der Online-Ausgabe der Berner Zeitung:
AntwortenLöschenDas Reform-Projekt „Passepartout“ kostete den Kanton Bern bisher rund 43 Millionen Franken. „Mille Feuilles“ und „Clin d`oeil“ sind die teuersten Lehrmittel aller Zeiten! Trotz diesem finanziellen Aufwand, ist der Bildungsabbau bereits offensichtlich. Es findet ein flächendeckender und unethischer Schulversuch statt. Entgegen den Warnungen von Sprachwissenschaftlern und Pädagogen wird diese Reform stur durchgeboxt. Wir Eltern haben der Bildungsbürokratie jedoch nie die Einwilligung gegeben, unsere Kinder als Versuchskaninchen zu missbrauchen. Es wird Zeit, dass wir Bürgerinnen und Bürger uns die demokratischen Rechte im Bereich der Bildung wieder zurückholen, die man uns in der Vergangenheit still und leise genommen hat.
Online-Kommentare von Christoph Zürcher und Jürg Brechbühl in der Online-Ausgabe der Berner Zeitung:
AntwortenLöschenDie Entwicklung ist absehbar. Wir nähern uns dem amerikanischen Bildungssystem an. Dort herrscht völlige Chancengleichheit, alle gehen in die high scool, an deren Ende alle gleichviel Nichts können. Dann folgt der Marathon an die Universitäten, den diejenigen gewinnen, die nebst eigener Intelligenz über ein bildungsfreundliches Elternhaus und Milieu samt dem nötigen Kleingeld für individuelle Förderung gewinnen. Das erste Jahr in Stanford, Harvard, am MIT usw. ist der Allgemeinbildung gewidmet. Das heisst, man lernt lesen und schreiben, holt also praktisch die Matur nach. Genau auf dieses Ziel steuern die selbsternannten Bildungspäpste in der PH und in der ERZ hin. Wann eliminiert man auf der ERZ endlich die Bildungsbürokraten?
Wie stellen Sie sich dieses "Eliminieren der Bildungsbürokraten" vor? Die Erziehungsdirektion hat 1000 Angstellte verteilt auf 800 Vollzeitstellen, die nichts zu tun haben, ausser unsere Schulen zu verwalten, Reformen zu planen und die missratenen Reformen zu reformieren, sowie das Qualitätssicherungssystem am Laufen zu halten. Kein anderer Kanton hat eine dermassen aufgeblähte Bildungsbürokratie.
Der grösste Teil dieser Leute sind abverheite Lehrer, denen der Schuldienst zu viel wurde und die sonst nirgends eingesetzt werden können. Die Bildungsbürokratie eliminieren hiesse demnach 800 von diesen 1000 Personen vorzeitig zu pensionieren. Vermutlich wäre das das gescheiteste, weil sie dann keinen Schaden mehr anrichten.
Online-Kommentar von Roger Grager in der Online-Ausgabe der Berner Zeitung:
AntwortenLöschenVater, 51, Bilingue meint:
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Mein Sohn lernt nach dem neuen, meine Tochter noch nach dem alten Lehrmittel.
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Es ist ja toll, dass ich mich nun mit Sohnemann über Zauberkünstler und Ehringer-Kuhkämpfe unterhalten kann. - Schade bloss, dass er nach drei Jahren nicht fähig ist, im Restaurant in Französisch eine Mahlzeit zu bestellen.
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Mit Tochter geht das prima. - Die spricht wirklich Französisch und ist auch in der Lage, Alltagssituationen zu meistern.
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Als Bilingue beurteile ich «Mille Feuilles» schlecht. - Und etwas noch:
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Wissen Sie, warum «Mille Feuilles» so heisst? Weil es sich um eine lose Blättersammlung aus tausenden von Blättern handelt. Mille feuilles, eben...