28. März 2017

Problematische Förderung der Kinder

Der Trend, die Kinder schon im frühen Alter zu fördern und für die Zukunft fit zu machen, ist übertrieben. Wir müssen akzeptieren, dass jedes Kind unterschiedliche Begabungen hat.
Förderung industrialisiert die Kindheit, NZZ, 28.3. von Oskar Jenni



Kind sein war früher anders. Wer erinnert sich nicht an das Spiel «Räuber und Poli» mit Freunden in der Nachbarschaft? Oder an die freien Nachmittage, die zwar bisweilen langweilig waren, an denen wir aber selber Spiele entwickelten? Diese Zeiten sind vorbei. Die Kindheit ist heute strukturiert, institutionalisiert, kommerzialisiert, ja geradezu industrialisiert. Der «Rohstoff Kind» wird verarbeitet, geformt, gefördert und gebildet. Am Ende wird überprüft, was diese Massnahmen alles gebracht haben. Wie ist es so weit gekommen?

Seit der Entstehung von Dienstleistungsgesellschaften wird Bildung als einer der wichtigsten wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren eines Landes verstanden. Folglich geht die Bildungspolitik nicht vom Kind aus. Sondern sie wird weitgehend von ökonomischen Interessen geleitet. Aber nicht nur der gesellschaftliche Strukturwandel, sondern auch neue Familienformen haben die Kindheit verändert. Der ungewöhnlich starke Geburtenrückgang mit Entstehung von Kleinfamilien, der Pluralismus von Lebensformen, neue Rollen innerhalb der Familien und ein genereller Verlust an Vertrauen in die Zukunft haben zu einer grossen Verunsicherung geführt. Die Folge ist die Fokussierung auf das einzelne Kind. Dieses eine Kind soll gefördert werden – es muss geradezu perfekt sein –, und in dieses Ziel wird viel investiert.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist durchaus sinnvoll, Mittel für die bestmögliche Entwicklung unserer Kinder bereitzustellen. Aber erlauben Sie mir trotzdem einen kritischen Blick auf den Begriff der Förderung und die aktuellen Förderbestrebungen der Gesellschaft. Die Angst vor dem Verlust unserer Wettbewerbsfähigkeit hat zur ausdrücklichen Forderung geführt, Kinder möglichst früh und intensiv zu fördern, in der Schule noch besser auszubilden und schliesslich für die Wirtschaft fit zu machen. Diese Forderung der Gesellschaft geht stillschweigend von einem veralteten Entwicklungsmodell aus: Dieses Modell besagt, dass das Kind fast alles lernen kann, wenn es nur didaktisch richtig angeleitet wird. Dieses Modell ist nachweislich falsch. Entwicklung ist ein ausserordentlich komplexer Prozess, der nicht linear verläuft, vom Kind aktiv in einem engen Zusammenspiel mit der Umwelt gelenkt wird und den wir als Erwachsene nicht steuern können. Wenn die Politik und Fachleute den Ausbau der Förderung verlangen, dann werden diese Forderungen nicht selten als Aufforderung verstanden, ja keine Chancen zu verpassen und möglichst zielgerichtet zu fördern. Auf diese Weise wird der Druck direkt an die Kinder weitergegeben.

Man muss sich darüber im Klaren sein: Die Förderung von Kindern führt nicht zwangsläufig dazu, dass die grossen individuellen Unterschiede von Kind zu Kind ausgemerzt werden und alle die gleichen Leistungen erreichen können. Die Vielfalt zwischen Kindern lässt sich nicht mit Förderung ausgleichen. Im Gegenteil: Eine noch bessere Förderung vergrössert die Unterschiede zwischen einzelnen Individuen, weil stärkere Kinder mehr von der Förderung profitieren als leistungsschwächere Kinder. Das gilt für die Förderung in der frühen Kindheit ebenso wie später in der Schule. Wir müssen akzeptieren, dass jeder von uns unterschiedliche Begabungen und Schwächen hat. Das ist aus evolutionsbiologischer Sicht auch sinnvoll: Je diversifizierter eine Gesellschaft, desto flexibler ist sie.

Ist also Förderung nicht sinnvoll? Doch. Aber diese muss sich am individuellen Kind orientieren sowie seine Eigenaktivität und den Entwicklungsstand berücksichtigen. Macht man das nämlich nicht, dann wird das Kind über- oder unterfordert. Tatsächlich sind die Kinder nicht selten wegen gut gemeinter Förderung mit überhöhten und unrealistischen Erwartungen konfrontiert. Dabei sind emotionale Geborgenheit, ein anregungsreiches Umfeld und das Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder wichtiger für eine gelingende Entwicklung, ein gutes Selbstwertgefühl und Wohlbefinden als jegliche Förderung.

Ich warne davor, durch den vermehrten Fokus auf Förderung und Bildung des Kindes die ausserordentlich wichtige Bereitstellung von beruflichen Angeboten für Jugendliche und junge Erwachsene zu vernachlässigen. Förderung nützt nämlich nichts, wenn wir später als Gesellschaft nicht konkrete Beschäftigungsangebote zur Verfügung stellen, die für Individuen mit sehr unterschiedlicher Leistungsfähigkeit genutzt werden können. Denn nur wenn wir alle Menschen mit ihren Stärken und Schwächen anerkennen, verhindern wir eine gesellschaftliche Spaltung, wie sie in vielen Ländern sichtbar wird. Glücklicherweise sind wir in der Schweiz noch nicht so weit. Noch sieht man ab und zu Kinder, die «Räuber und Poli» spielen. Lassen wir ihnen die Chance, ihre Stärken selbst zu entdecken. Lassen wir sie Kinder sein.


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