Der Trend, die Kinder schon im frühen Alter zu fördern und für die
Zukunft fit zu machen, ist übertrieben. Wir müssen akzeptieren, dass jedes Kind
unterschiedliche Begabungen hat.
Förderung industrialisiert die Kindheit, NZZ, 28.3. von Oskar Jenni
Kind sein war früher anders. Wer erinnert sich nicht an das Spiel
«Räuber und Poli» mit Freunden in der Nachbarschaft? Oder an die freien
Nachmittage, die zwar bisweilen langweilig waren, an denen wir aber selber
Spiele entwickelten? Diese Zeiten sind vorbei. Die Kindheit ist heute
strukturiert, institutionalisiert, kommerzialisiert, ja geradezu
industrialisiert. Der «Rohstoff Kind» wird verarbeitet, geformt, gefördert und
gebildet. Am Ende wird überprüft, was diese Massnahmen alles gebracht haben.
Wie ist es so weit gekommen?
Seit der Entstehung von Dienstleistungsgesellschaften wird Bildung als
einer der wichtigsten wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren eines Landes verstanden.
Folglich geht die Bildungspolitik nicht vom Kind aus. Sondern sie wird
weitgehend von ökonomischen Interessen geleitet. Aber nicht nur der
gesellschaftliche Strukturwandel, sondern auch neue Familienformen haben die
Kindheit verändert. Der ungewöhnlich starke Geburtenrückgang mit Entstehung von
Kleinfamilien, der Pluralismus von Lebensformen, neue Rollen innerhalb der
Familien und ein genereller Verlust an Vertrauen in die Zukunft haben zu einer
grossen Verunsicherung geführt. Die Folge ist die Fokussierung auf das einzelne
Kind. Dieses eine Kind soll gefördert werden – es muss geradezu perfekt sein –,
und in dieses Ziel wird viel investiert.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist durchaus sinnvoll, Mittel für
die bestmögliche Entwicklung unserer Kinder bereitzustellen. Aber erlauben Sie
mir trotzdem einen kritischen Blick auf den Begriff der Förderung und die
aktuellen Förderbestrebungen der Gesellschaft. Die Angst vor dem Verlust
unserer Wettbewerbsfähigkeit hat zur ausdrücklichen Forderung geführt, Kinder
möglichst früh und intensiv zu fördern, in der Schule noch besser auszubilden
und schliesslich für die Wirtschaft fit zu machen. Diese Forderung der
Gesellschaft geht stillschweigend von einem veralteten Entwicklungsmodell aus:
Dieses Modell besagt, dass das Kind fast alles lernen kann, wenn es nur
didaktisch richtig angeleitet wird. Dieses Modell ist nachweislich falsch.
Entwicklung ist ein ausserordentlich komplexer Prozess, der nicht linear
verläuft, vom Kind aktiv in einem engen Zusammenspiel mit der Umwelt gelenkt
wird und den wir als Erwachsene nicht steuern können. Wenn die Politik und
Fachleute den Ausbau der Förderung verlangen, dann werden diese Forderungen
nicht selten als Aufforderung verstanden, ja keine Chancen zu verpassen und
möglichst zielgerichtet zu fördern. Auf diese Weise wird der Druck direkt an
die Kinder weitergegeben.
Man muss sich darüber im Klaren sein: Die Förderung von Kindern führt
nicht zwangsläufig dazu, dass die grossen individuellen Unterschiede von Kind
zu Kind ausgemerzt werden und alle die gleichen Leistungen erreichen können.
Die Vielfalt zwischen Kindern lässt sich nicht mit Förderung ausgleichen. Im
Gegenteil: Eine noch bessere Förderung vergrössert die Unterschiede zwischen
einzelnen Individuen, weil stärkere Kinder mehr von der Förderung profitieren
als leistungsschwächere Kinder. Das gilt für die Förderung in der frühen
Kindheit ebenso wie später in der Schule. Wir müssen akzeptieren, dass jeder
von uns unterschiedliche Begabungen und Schwächen hat. Das ist aus
evolutionsbiologischer Sicht auch sinnvoll: Je diversifizierter eine
Gesellschaft, desto flexibler ist sie.
Ist also Förderung nicht sinnvoll? Doch. Aber diese muss sich am
individuellen Kind orientieren sowie seine Eigenaktivität und den
Entwicklungsstand berücksichtigen. Macht man das nämlich nicht, dann wird das Kind
über- oder unterfordert. Tatsächlich sind die Kinder nicht selten wegen gut
gemeinter Förderung mit überhöhten und unrealistischen Erwartungen
konfrontiert. Dabei sind emotionale Geborgenheit, ein anregungsreiches Umfeld
und das Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder wichtiger für
eine gelingende Entwicklung, ein gutes Selbstwertgefühl und Wohlbefinden als
jegliche Förderung.
Ich warne davor, durch den vermehrten Fokus auf Förderung und Bildung
des Kindes die ausserordentlich wichtige Bereitstellung von beruflichen
Angeboten für Jugendliche und junge Erwachsene zu vernachlässigen. Förderung
nützt nämlich nichts, wenn wir später als Gesellschaft nicht konkrete
Beschäftigungsangebote zur Verfügung stellen, die für Individuen mit sehr unterschiedlicher
Leistungsfähigkeit genutzt werden können. Denn nur wenn wir alle Menschen mit
ihren Stärken und Schwächen anerkennen, verhindern wir eine gesellschaftliche
Spaltung, wie sie in vielen Ländern sichtbar wird. Glücklicherweise sind wir in
der Schweiz noch nicht so weit. Noch sieht man ab und zu Kinder, die «Räuber
und Poli» spielen. Lassen wir ihnen die Chance, ihre Stärken selbst zu
entdecken. Lassen wir sie Kinder sein.
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