25. Oktober 2015

Immer weniger Schüler bleiben sitzen

Was früher üblich war, ist heute die Ausnahme: Überforderte, schwache und langsame Schüler müssen kaum mehr eine Klasse repetieren. «Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass eine Repetition mittelfristig meistens nichts bringt», sagt Sybille Bayard von der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Sie hat die Repetitionsquote in der Zürcher Volksschule vom Kindergarten bis zur Oberstufe seit 2001 untersucht und festgestellt, dass sich diese mehr als halbiert hat: von 2,8 Prozent auf 1,3 Prozent pro Jahr. Nimmt man nur die Regelschule ohne die besonderen Klassen, sank die Quote von 1,6 auf 1,1 Prozent.








Die Klasse wiederholen war einmal, NZZaS, 25.10. von René Donzé

Dass heute die Kinder viel seltener auf die «Ehrenrunde» geschickt werden, hat auch mit dem Trend zur Integration zu tun. Im Kanton Zürich wurden Einschulungs-, Aufnahme- und Kleinklassen weitgehend abgeschafft. «Die Heterogenität der Klassen hat dadurch zugenommen», sagt Bayard. Heute versucht man, schwache Schüler mit Stütz- und Fördermassnahmen in der angestammten Klasse zu halten, und passt bei Bedarf die Lernziele an.
Repetition selten sinnvoll
Bemerkenswert sind die Zahlen auch, weil eine im Frühling präsentierte Langzeitstudie des Instituts für Bildungsevaluation der Universität Zürich eine alarmierend hohe Quote von 18 Prozent Repetitionen im Verlaufe der Schulkarriere der 2003 Eingeschulten festhielt. Nun zeigt sich: Für Kinder, die heute zur Schule gehen, dürfte der Wert bis Ende Schulpflicht deutlich tiefer liegen. Das sei auch gut so, sagt die Präsidentin des Zürcher Lehrerverbands, Lilo Lätzsch: «Es gibt nur wenige Fälle, in denen eine Repetition aus pädagogischer Sicht sinnvoll ist.» Schwache Schüler müssten gefördert und nicht zurückversetzt werden, sagt sie. Urs Moser vom Institut für Bildungsevaluation bestätigt: «Bezogen auf die messbare Schulleistung ist das positiv zu werten.» Allerdings bedeute die Integration für die Schule auch einen Zusatzaufwand.
Der Trend zu weniger Repetitionen ist in den letzten Jahren auch in anderen Kantonen zu beobachten, etwa in Basel, wo die Quote bei 1 Prozent liegt. Einen aktuellen Überblick über die ganze Schweiz gibt es indes nicht. Die letzte Erhebung des Bundesamtes für Statistik gibt für 1990 bis 2009 noch einen stabilen Durchschnitt an. Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind gross und reichen von 1,2 (ZG, AR, TI, JU) bis 3,7 Prozent (VD).
Buben sind langsamer
Jürg Brühlmann vom Schweizer Lehrerverband (LCH) erwartet einen generellen Rückgang: «Traditionelle Repetenten gibt es immer weniger. Auch der neue, flexiblere Lehrplan 21 wird diesen Trend verstärken.» Ein allgemeines Verbot von Repetitionen - wie es einige deutsche Bundesländer und Österreich planen - sei aber nicht sinnvoll. «Als begründete pädagogische Einzelmassnahme soll eine Klassenwiederholung oder längere Verweildauer weiterhin möglich sein, weil es immer wieder gute Gründe und Beispiele dafür gibt, dass Kinder Lernrückstände erfolgreich aufholen können», hält der LCH in einem Positionspapier fest.
Trotz den generell rückläufigen Repetitionen im Kanton Zürich nehmen sie in einem Segment augenfällig zu: Der Anteil der Knaben, die nach den obligatorischen zwei Kindergartenjahren ein drittes Jahr anhängen müssen, hat sich von 1,6 auf 2,9 Prozent praktisch verdoppelt. Bei den Mädchen hat sich der Anteil nach einem anfänglichen Anstieg wieder auf die ursprünglichen 1,5 Prozent reduziert.
Sybille Bayard vermutet, dass dies mit dem Trend zur frühzeitigen Einschulung in den Kindergarten zu tun hat. «Diese Zahl hat stark zugenommen», sagt Bayard. Seit 2006 ist es möglich, auch Kinder in den Kindergarten zu schicken, die bis zu drei Monate zu jung sind. Vermutlich seien einige von ihnen nach zwei Jahren Kindergarten noch nicht reif genug für die Schule.

Das bestätigt Brigitte Fleuti, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich. Vor allem Buben seien betroffen. «Sie brauchen tendenziell länger in ihrer Entwicklung als Mädchen.» Fleuti befürchtet, dass diese Fälle noch zunehmen werden, da bis 2020 der Stichtag für die Einschulung sukzessive von Ende April auf Ende Juli verlegt wird - zwecks Harmonisierung des Eintrittsdatums in der ganzen Schweiz. «Tendenziell wird es mehr überforderte Kinder im Kindergarten geben», sagt sie. Man würde diese Kinder besser erst ein Jahr später einschulen, findet sie. «Doch das ist vom Volksschulamt nicht erwünscht.»

1 Kommentar:

  1. Bis vor wenigen Jahren haben alle Lehrer ihre Schüler so unterrichtet, dass sie am Ende des Schuljahres das gemeinsame Klassenziel erreichen konnten, damit der Lehrerkollege in der nächsten Klasse mit seinem Stoff nahtlos fortfahren konnte. Damit konnte die für das Lernen optimale Homogenität der Jahrgangsklassen erreicht werden. Schüler, die dieses Ziel nicht erreicht haben, erhielten Gelegenheit in einem Repetitionsjahr ihre Lücken aufzuholen. Sehr vielen Schülern ist es mit diesem Zusatzjahr gelungen, den Anschluss wieder zu finden und ihre Schulzeit erfolgreich zu beenden.
    Mit der Total-Integration und der bewussten Herbeiführung von Heterogenität durch weitgehende Abschaffung der im Volkschulgesetz vorgesehenen (!) Einschulungsklassen, Aufnahmeklassen für Fremdsprachige, Kleinklassen und Sonderschulen ist die Erreichung des Klassenziels für viele Schüler nicht mehr möglich. Die Lücken werden von Jahr zu Jahr grösser und bis Schulabgang verringern sich die Chancen für das Berufsleben teilweise dramatisch. Wenn Studien nun behaupten, dass Repetition (heute) nichts bringe, hängt das vermutlich damit zusammen, dass die Lücken durch das „Heterogenitätssystem“ so gross geworden sind, dass sie in einem Zusatzjahr nicht mehr aufgeholt werden können oder man glaubt, auf dem Buckel der schwachen Schüler Geld sparen zu können.

    Es war einmal eine Schule, wo alle Schüler am Schulende lesen, schreiben und rechnen konnten.

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