5. Oktober 2017

Schluss mit Passepartout!

Schulische Lehrmethoden sind so vergänglich und wiederkehrend wie die Jahreszeiten. In den Achtzigern herrschte das Sprachlabor, im Wesentlichen gesteuerter Einzelunterricht an überdimensionierten Tonbandgeräten. In den Neunzigern kam der Werkstattunterricht, eine Art Postenlauf im Schulzimmer, bei dem die Lernenden selbstständig Aufträge bearbeiteten. Wenig später hatte unser Nachwuchs die individuelle Selbstständigkeit wieder verloren, denn nun konnte er im Rahmen kooperativer Lernformen nur noch miteinander lernen.
Heute ist die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler nicht nur zurückgekehrt, sie hat sich sogar potenziert. Selbstorganisiertes Lernen nennt sich dieses flüchtige Mysterium.
Bei diesem Konzept entdecken und erarbeiten sich die Lernenden beispielsweise im Fremdsprachenunterricht Vokabular und Grammatik selbstständig anhand von auch für Lehrpersonen anspruchsvollen, dem jeweiligen Sprachniveau nicht angepassten Texten. Passepartout, so das schön klingende Beispiel für selbstorganisiertes Lernen, bietet folglich weder nennenswerte Erklärungen zur Grammatik oder entsprechende Übungen, noch wird systematisch Wortschatz aufgebaut. Im Sinne der Lernautonomie gilt bei Passepartout: Beobachten, selbstständig analysieren, selber herausfinden und die gewonnenen Erkenntnisse in der Klasse diskutieren und festhalten.
Selbstorganisiertes Lernen mit einem offenkundig untauglichen Konzept, Basler Zeitung, 5.10. von Felix Hoffmann


Was bleibt, sind schwierige Texte
Das Kernelement dieses Konzepts lautet «Sprachbad». Damit gemeint ist das einer Fremdsprache dauernde Ausgesetztsein, beispielsweise im fremdsprachigen Ausland. Verbringt man dort genug Zeit, lernt sich die entsprechende Fremdsprache unter anderem mittels Zeitungen, Fernsehen, Radio und Gesprächen mit Einheimischen auch ohne systematische Beschäftigung mit Grammatik und Wortschatz.

Der Umkehrschluss der Passepartout-Ideologen: Entfallen Grammatik, Wortschatz und Systematik im Unterricht, lernt sich die Fremdsprache mittels Sprachbad von selbst. Abgesehen von dieser Unmöglichkeit, lässt sich mit wöchentlich zwei bis drei Lektionen logischerweise kein Sprachbad realisieren. Folglich fehlen bei Passepartout die Grammatik, der Wortschatz, die Systematik und das Sprachbad. Was bleibt, sind die für die Schülerschaft zu schwierigen Texte.

Passepartout ist ein ideologisches Fehlkonstrukt. Die Frage ist, ob die Befürworter über genügend Einfluss verfügen, das Scheitern gegenüber der Öffentlichkeit zu vertuschen, um das Gesicht zu wahren. Ein Versuch in diese Richtung ist das vom Steuerzahler finanzierte digitale Marketing der Zürcher Nemuk AG. Die Firma liefert in der Tat ein Topprodukt.
Doch jedes Marketing muss scheitern, wenn der propagierte Artikel die Macht des Faktischen ignoriert. Eine weitere Möglichkeit der Manipulation könnten Evaluationen bieten, indem hauptsächlich die besten Fremdsprachenlernenden oder gar Muttersprachler getestet würden.

Angesichts der offenkundigen Untauglichkeit des Passepartout-Konzepts und dessen Lehrwerken sowie der vernichtenden Rückmeldungen aus der Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft braucht es keine kostspieligen Evaluationen und auch keine halben Lösungen wie teure Ergänzungsmaterialien für nicht funktionierende Schulbücher. Denn was nichts ist, lässt sich nicht ergänzen.

Ideologisches Fehlkonstrukt
Beide Schritte verursachen unnötige Mehrkosten. Die einzige Lösung ist die Lehrmittelfreiheit auf der Sekundarstufe I, wie sie bereits auf der Sekundarstufe II besteht. Niemand kann nämlich besser beurteilen, was in ihrem Fremdsprachenunterricht funktioniert, als die Lehrpersonen, die täglich im Klassenzimmer stehen und dadurch über einen unvergleichbaren Erfahrungsschatz verfügen.

Viele ergänzende Unterrichtsmaterialien haben sie sich im Laufe ihrer Lehrtätigkeit auf eigene Kosten zugelegt. Ansonsten hat der freie Markt längst entschieden, welches die besten und damit am weitesten verbreiteten Schulbücher für Fremdsprachen sind. Diese gibt es dank des Wettbewerbs im Gegensatz zu den teuren und unbrauchbaren Passepartout-Lehrbüchern auch zu vernünftigen Preisen.

Das eingangs erwähnte selbstorganisierte Lernen bildet die Grundlage der für Erwachsene angebotenen Fernkurse zur Vorbereitung auf die eidgenössische Maturität. Gemessen an allen Kandidaten, die beginnen, sich via Fernstudium auf die Matura vorzubereiten, bewegen sich die erfolgreichen Absolventen im einstelligen Prozentbereich. Dies nicht etwa, weil die grosse Mehrheit an den Prüfungen scheitert. Nein! Die allermeisten schaffen es gar nicht erst an die Examen.

Sie geben vorher auf, da sie nicht genügend selbstdiszipliniert, also selbstorganisiert lernen können. Selbstorganisiertes Lernen verlangt von Kindern, Pubertierenden und Jugendlichen, woran die allermeisten Erwachsenen scheitern.
Felix Hoffmann ist Sekundarlehrer und wohnt in Himmelried.


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