Kolumne
zu einem Schulfach, das in der Deutschschweiz immer noch nicht existiert.
Politische Bildung - was ist das? Aargauer Zeitung, 5.10. von Hans Fahrländer
Indes: Was ist das eigentlich genau,
politische Bildung? «Die schweizerische Bundesversammlung umfasst 246
Mitglieder.» – «Initiative und Referendum gehören zu den zentralen
Mitwirkungsinstrumenten.» Ja natürlich. Gewiss auch. Aber längst nicht nur. Es
geht nicht nur um abfragbares Wissen, es geht um ein eigentliches Einüben der
direktdemokratischen Abläufe und der politischen Partizipation. Es geht um
Wissen – aber auch um Haltungen. Es geht um Pflichten – aber auch um Rechte.
Grob kann man zwei «Teilfächer» unterscheiden:
Politik
lernen: Schülerinnen und Schüler sollen in den Stand versetzt werden, den Staat
(mindestens) gleich gut erklären zu können wie die einbürgerungswillige Türkin
Funda Yilmaz aus Buchs AG.
Demokratie
lernen: Die jungen Staatsbürger sollen erfahren, wie direkte Demokratie
funktioniert. Nicht nur durch Pauken, sondern sozusagen am eigenen Leib.
Demokratie ist nicht nur ein Praxis-System, sondern auch ein Werte-System.
Diese Werte muss man vermitteln.
Junge Menschen haben staatsbürgerliche Pflichten, aber
auch Rechte
Über
die staatsbürgerlichen Pflichten wird viel geredet. Reden wir mal über die
Rechte. Junge Menschen haben Rechte. Wissen sie das überhaupt? Wer sagt es
ihnen? 1989 hat die UNO eine «Konvention über die Rechte des Kindes» verabschiedet
(ja, es geht auch um Kinder, nicht «erst» um Jugendliche, deshalb ist es
wichtig, dass politische Bildung nicht erst auf der Oberstufe einsetzt). Die
Schweiz hat die Konvention 1997 ratifiziert. Sie postuliert unter anderem:
Recht auf elterliche Fürsorge, Recht auf Ausbildung, aber auch auf Spiel und
Erholung, Schutz vor Diskriminierung, Ausbeutung und Vernachlässigung – aber
auch das Recht, angehört zu werden. 20 Jahre nach dem Beitritt der Schweiz zu
dieser Konvention wäre es an der Zeit, sie zum obligatorischen Schulstoff zu
erklären.
Das
war jetzt nur ein Beispiel. Tatsache ist: Die Schweiz, das
direktdemokratischste Land Europas, hinkt punkto Staatskunde den anderen
hintendrein. Ein eklatanter Widerspruch. Der Lehrplan 21 postuliert zwar Staatskunde-Ziele
(Pardon: Kompetenzen). Aber es gibt hierfür kein eigenes Fach. Es gibt keine
Verbindlichkeit. Und es gibt keine Kontrollpflicht mittels Tests. Grob gesagt:
Die Lehrperson kann machen, was sie will. Vielen Lehrkräften liegt das
politische Fach nicht eben nahe. Also machen sie nichts. Oder fast nichts. Es
hat ja keine Konsequenzen.
Gut zum Einüben: Klassenräte und Schülerparlamente
Ein
anderes Beispiel. Zum zweiten «Teilfach», Demokratie lernen, gibt es patente
Übungsfelder: Klassenräte und Schülerparlamente. Zuhören lernen. Andere
Meinungen akzeptieren. Parteien und Fraktionen bilden. Die Kunst des
Kompromisses erlernen. Es gibt sie wohl, die Klassenräte und Schülerparlamente.
Aber wiederum fehlen Verbindlichkeit und Kontrolle.
Die
Bemühungen um politische Bildung sind in der Schweiz mannigfaltig. Aber es
fehlt an Koordination – und deshalb an Durchschlagskraft. Neben Inhaltlichem
wäre ja auch noch Strukturelles zu besprechen:
·
Wie müsste man die Lehrerbildung anpassen,
um die Lehrkräfte besser zu motivieren?
·
Was gehört in die Volksschule, was in die
Mittel- und Berufsschule, was in den ausserschulischen Bereich, was in die
Erwachsenenbildung?
·
Und nicht zuletzt: Was macht man, dieweil
die Schweizer Kinder in der Klasse Staatskunde büffeln, mit den
Ausländerkindern? Schickt man sie zum Spielen raus?
Zum
letzten Punkt nur so viel: Der Gründungsdirektor des Zentrums für Demokratie
Aarau (ZDA), Andreas Auer, gewiss kein Linker, hat es stets als grösstes
Defizit der schweizerischen Demokratie bezeichnet, dass fast ein Viertel der
hiesigen Wohnbevölkerung sich nicht an dieser Demokratie beteiligen kann. Wie
soll man die Menschen so integrieren?
Hans Fahrländer arbeitete von 1979 bis 2015 in
verschiedenen Funktionen für diese Zeitung, unter anderem als Chefredaktor.
Heute kommentiert er das nationale und regionale Geschehen. Er ist Mitglied des
Publizistischen Ausschusses der AZ Medien.
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