Seit 20 Jahren gibt es den Solothurner
Lehrerverband. Krisen, Sparmassnahmen und Reformstau waren lange prägend. Der
Verband brachte 2000 Lehrer auf die Strasse und lancierte mehrere Initiativen.
Wie steht es heute um den Berufsstand?
Solothurns "Mr. Lehrer": "Lehrer-Klischees sind wohl nie totzukriegen", Solothurner Zeitung, 4.10. von Sven Altermatt
Wer verstehen will, wie sich die Volksschule im
Kanton Solothurn in den vergangenen Jahren entwickelt hat, der muss mit Roland
Misteli sprechen. Der 59-jährige Lehrer und Sozialwissenschaftler ist vieles:
Gewerkschafter, Rechtsberater, bildungspolitische Stimme. Vor allem aber ist er
Geschäftsführer des Verbandes Lehrerinnen und Lehrer Solothurn (LSO), einem der
grössten Berufsverbände des Kantons. Der LSO wurde vor 20 Jahren gegründet.
Misteli führt seit dem dessen Geschicke.
Roland Misteli, vermissen sie die Zeit zur
Jahrtausendwende manchmal?
Roland Misteli: Nein,
eigentlich nicht (lacht). Es herrschte zweifellos ein anderes politisches
Klima, ein raueres vor allem. Da mussten wir deutlich kämpferischer auftreten,
das war schon interessant. Aber ich schätze es eher, wenn man konstruktiv mit
seinen Partnern zusammenarbeiten kann.
Bei der Gründung Ihres Verbandes herrschte in
Solothurn ein Spardiktat – erst recht nach dem Kantonalbank-Debakel. Die Lehrer
mussten Einbussen hinnehmen, und Sie waren permanent in der Rolle des
Gewerkschafters.
Ein Sparpaket folgte auf das andere, die Stimmung
war am Boden. In den Schulen mussten fast 10 Millionen Franken eingespart
werden, das Antasten der Löhne war kein Tabu mehr. Wir waren unter anderem mit
Reduktionen bei den Freifächern konfrontiert und mit einer Erhöhung der
Klassengrössen. Die Schulen sowie die Lehrer und das Staatspersonal drohten zu
den eigentlichen Opfern des «schlanken Staates» zu werden.
Der LSO galt damals als Gewerkschaft, wie sie im
Lehrbuch steht: Er lancierte Initiativen, schlug markige Töne an, organisierte
Demonstrationen. Waren Sie gerne an vorderster Front?
Wir machten, was wir konnten. Wenn es nicht anders
ging, mussten wir eben zu härteren Mitteln greifen. Wie gesagt, das Gespräch
ziehen wir immer vor.
Der LSO ging 1997 aus der Fusion des pädagogisch
geprägten Lehrervereins und des eher gewerkschaftlichen Lehrerbundes hervor.
Warum war der Zusammenschluss notwendig?
Obwohl die Verbände seit längerer Zeit
kooperierten, lief vieles nicht ganz so effizient. Bisweilen gab es
Doppelspurigkeiten und man merkte, dass den Lehrern eine starke Stimme fehlte.
Gerade in diesen anspruchsvollen Zeiten.
Sie brachten 2000 Lehrer auf die Strasse, um gegen
Sparmassnahmen an der Schule zu demonstrieren. Wäre so etwas heute noch
möglich?
Ja klar. Die Lehrer sind kritische Menschen im
Dienst der Gesellschaft, die für Ihre Vorstellungen und Ideen einstehen. Wenn
nötig, gehen sie dafür auch auf die Strasse.
Später lancierten Sie eine Petition «Gegen den Bildungsabbau» und vier
Volksinitiativen.Warum diese geballte Ladung?
Um die Jahrtausendwende lag im Bildungswesen vieles
im Argen, dringend nötige Reformen wurden nicht eingeleitet. Da wollten wir
vorwärtsmachen. Wir forderten zeitgemässe Strukturen und Klarheit darüber, wer
für was im Volksschulwesen zuständig ist. Der Kanton sollte seine
bildungspolitische Verantwortung besser wahrnehmen.
An die Urne kamen schliesslich die Forderungen, den
Kindergarten und die Musikschule in die Volksschule zu integrieren. Beide
scheiterten deutlich.
Es war wohl noch zu früh dafür. Trotzdem haben wir
etwas ausgelöst. Heute ist der Kindergarten selbstverständlich in die
Volksschule integriert. Niemand käme mehr auf die Idee, das infrage zu stellen.
Und was die Musikschulen angeht, gab es ebenfalls Verbesserungen. Ebenso führte
eine unserer Initiativen via Gegenvorschlag letztlich dazu, dass es im Kanton
nun geleitete Schulen gibt.
Man wolle dem Bildungsdepartement stärker Paroli
bieten, hiess es bei der LSO-Gründung. Sie positionierten sich als Bollwerk der
Lehrerschaft. Heute scheint es, Sie und die zuständigen Behörden verstünden
sich prächtig. Täuscht dieser Eindruck?
Prächtig ist übertrieben. Heute haben wir aber ein
recht gutes Einvernehmen mit dem kantonalen Bildungsdepartement, obwohl die
Positionen manchmal unterschiedlich sind. Wir werden angehört, man setzt sich
mit uns an einen Tisch und unsere Positionen werden teilweise aufgenommen.
Gleichzeitig haben wir die grossen Reformen hinter uns, es sind ruhigere Zeiten
eingekehrt.
Mit früheren Bildungsdirektoren führten Sie
bisweilen öffentliche Wortgefechte. Der amtierende Departementschef Remo Ankli
wurde an Lehrertagen zuletzt geradezu überschwänglich empfangen.
Wie man in den Wald ruft, so schallt es eben
zurück. Bildungsdirektor Ankli hat eine offene Tür, hört uns an und pflegt den
Dialog, wie schon sein Vorgänger Klaus Fischer. Gleichzeitig ist der LSO als
Kraft positioniert, um die man nicht mehr herumkommt. Wir werden als «Stimme
der Basis» respektiert. Es stimmt aber, gerade mit Ex-Bildungsdirektorin Ruth
Gisi war die Zusammenarbeit sehr schwierig.
Ein Dauerbrenner sind die Löhne. 2005 wurde der
Gesamtarbeitsvertrag (GAV) des Kantons eingeführt – mit guten Bedingungen für
Lehrer und Staatspersonal. Sie waren an den Verhandlungen beteiligt. Wie steht
es heute um den GAV?
Bevor der GAV in Kraft trat, hatte Solothurn einen
grossen Nachholbedarf bei den Löhnen. Dann hat der Kanton seine Hausaufgaben
gemacht, das hat sich ausbezahlt. Wir hoffen, dass das so bleibt …
… befürchten Sie diesbezüglich also
Verschlechterungen?
Ich nehme entsprechende Tendenzen wahr.
Lohnpolitisch ist seit vier Jahren nichts mehr passiert. Von verschiedenen
Seiten wird der GAV schlecht geredet und als unflexibel bezeichnet, dabei ist
er genau das Gegenteil. Seit der Einführung im Jahr 2005 wurden über 40
Änderungen vorgenommen. Wir trugen auch Verschlechterungen für das Personal mit
wie etwa die Lockerung des Kündigungsschutzes oder die Abflachung der
Lohnanstiegskurve.
Solothurn ist im interkantonalen Vergleich bei den
Löhnen der Volksschullehrer weit oben angesiedelt. Da dürften Sie sich
eigentlich nicht beklagen, oder?
Das ist an sich richtig so. Wenn man aber schaut,
welche Schwierigkeiten andere Kantone bei der Besetzung von offenen Stellen
haben, dann können wir uns glücklich schätzen. Der Lohn ist ein Faktor für die
Attraktivität des Lehrerjobs. Stellen sind bei uns weit weniger schwierig zu
besetzen als in umliegenden Kantonen. Man darf nicht vergessen: Mit den
heutigen Lehrerdiplomen kann jeder in jedem Kanton arbeiten. Es herrscht
Konkurrenz. Ausserdem sind vor allem die Einstiegslöhne attraktiver, im Laufe
der Jahre gleichen sich die Solothurner Lehrerlöhne dann wieder den umliegenden
Kantonen an.
Was bei all dem vergessen geht: Ist es nicht so,
dass Lehrpersonen im Vergleich zu anderen Berufen noch immer einen grösseren
Gestaltungsspielraum und vor allem mehr Ferien haben?
Gestaltungsfreiraum schon, aber Ferien haben die
Lehrer nicht mehr als andere Angestellte. Solche Klischees sind wohl nie
totzukriegen. Dutzende Erhebungen haben gezeigt: Lehrer arbeiten ebenfalls die
üblichen rund 2000 Stunden pro Jahr, nur ist die Arbeitszeit anders verteilt.
In den Schulwochen arbeiten sie deutlich mehr als 42 Stunden.
Ab der Jahrtausendwende wurde der Lehrermangel
verschiedentlich zum Thema. Auch sie warnten regelmässig davor. Wie beurteilen
Sie die heutige Situation?
Im Kanton gibt es derzeit keinen grundsätzlichen
Lehrermangel, wohl aber einen qualitativen. An unseren Schulen fehlen vor allem
Heilpädagogen, das ist aber ein schweizweites Problem. Teilweise müssen
Lehrpersonen auch Fächer unterrichten, für die sie nicht ausgebildet sind.
Ihre bisherige Amtszeit stand ganz im Zeichen von
Reformen, allen voran der grossen Sek-I-Reform. Nun, unter dem Strich: Sind sie
zufrieden damit?
Ja, zu 80 Prozent …
… und die restlichen 20 Prozent?
Es gibt ungelöste Probleme struktureller Art. So
stellt sich bei der Sek P, dem früheren Untergymnasium, etwa die Frage, ob man
die Schüler ab der 7. Klasse ausschliesslich auf eine gymnasiale Ausbildung
vorbereitet oder ob diese Selektion erst in der 9. Klasse erfolgen soll.
Welchen Weg finden Sie denn besser?
Beide haben Ihre Vorteile. Das zeigen auch die
Untersuchungen von Fachleuten.
Probleme bestehen auch, weil ein signifikanter Teil der Sek-B-Schüler nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle findet. Das ist eine Baustelle. Die Anforderungen der Wirtschaft sind gestiegen. Unabhängig von der Einführung der Sek B gibt es immer weniger Lehrstellen für leistungsschwächere Schüler. Ich nehme aber positive Signale war: Es werden mehr entsprechende Angebote geschaffen und weil sich viele Lehrstellen nur schwer besetzen lassen, bieten Betriebe auch Sek-B-Schülern öfters eine Chance.
Probleme bestehen auch, weil ein signifikanter Teil der Sek-B-Schüler nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle findet. Das ist eine Baustelle. Die Anforderungen der Wirtschaft sind gestiegen. Unabhängig von der Einführung der Sek B gibt es immer weniger Lehrstellen für leistungsschwächere Schüler. Ich nehme aber positive Signale war: Es werden mehr entsprechende Angebote geschaffen und weil sich viele Lehrstellen nur schwer besetzen lassen, bieten Betriebe auch Sek-B-Schülern öfters eine Chance.
Trotzdem klagen gerade Lehrbetriebe über
Niveauverluste nach der Sek-Reform.
Klagen über vermeintliche Niveauverluste sind wohl
so alt wie die Volksschule selbst (lacht). Ich bin überzeugt und das zeigen
auch Studien: Das individuelle Niveau hat sich nicht verschlechtert. Und obwohl
die Anforderungen an viele Lehrberufe gestiegen sind, ist die
Lehr-Abschlussquote noch immer enorm hoch.
Der Lehrplan 21 kann 2018 in Solothurn definitiv
eingeführt werden. Die Zustimmung an der Urne war mit 65,7 Prozent Ja-Stimmen
deutlich. Überraschte sie das?
Nicht unbedingt. Wir wussten seit der Urabstimmung
unter unseren Mitgliedern, dass die Zustimmung zumindest in der Lehrerschaft
gross ist. Die grundsätzliche Debatte ist nun beendet, der Lehrplan 21 ist
breit abgestützt. Man kann sich in Ruhe auf die Einführung vorbereiten. Mehr
als 3000 Lehrpersonen müssen im Solothurnischen weitergebildet werden, das
erfordert eine grosse Anstrengung. Von diesen Veranstaltungen wird es jedoch
abhängen, wie gut der Lehrplan an der Front ankommt.
Eine andere Baustelle ist die Spezielle Förderung.
Die Solothurner Politik will den Gestaltungsrahmen der Gemeinden ausbauen,
aktuell läuft dazu die Vernehmlassung. Wo sehen Sie hier konkrete Probleme?
Zum einen ist da natürlich der erwähnte Mangel an
Heilpädagogen. Zum anderen ist es wichtig, dass separative Formen wieder zeitlich
begrenzt eingeführt werden können, wo dies notwendig ist. Das soll ja nun
möglich werden. Konkret denke ich etwa an Niveaugruppen, die in den Kernfächern
an grösseren Schulen eingeführt werden könnten. Zudem ist in einigen Gemeinden
der Lektionenpool für die Spezielle Förderung zu gering dotiert.
Zum Schluss: Roland Misteli, warum sollte man heute
eigentlich noch Lehrer werden?
Unterrichten ist eine ausserordentlich
sinnstiftende und befriedigende Tätigkeit. Die Arbeit mit jungen Menschen macht
Freude.
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