Schüler sollen von ihren Lehrern was lernen, heißt die einfache
Botschaft. Der Pädagoge Dirk Stötzer über Führungskräfte, Sonnyboys, Wracks –
und den besten Beruf der Welt.
Der entscheidende erste Augenblick: Robin Williams in "Dead Poets Society", Bild: Allstar/Touchstone
"Die Lehrerpersönlichkeit kann man nicht lernen", FAZ, 30.8. von Julia Schaaf
Herr Stötzer, gibt es das: den Superlehrer, wie er im Titel Ihres Buches
erscheint?
Der Superlehrer ist sicherlich eine Fiktion. Der
Begriff stammt aus dem Video, das ich im vergangenen Frühjahr zu meinem
Abschied nach vierzig Jahren Schuldienst gedreht habe und das sich an dieser
„Supergeil“-Werbung von Edeka orientiert. Aber in der Praxis strebt jeder
danach, ein Superlehrer zu sein – oder jedenfalls ein sehr guter Lehrer.
Wie vielen gelingt das?
Der überwiegenden Mehrheit. Ich habe zum Schluss in
der Berliner Bildungsverwaltung im Beschwerdemanagement gearbeitet. Lehrer, die
dort immer wieder negativ auffallen, stellen keine drei Prozent.
Das sind nur die Totalausfälle. Angeblich erinnern sich Schüler gerade
mal an fünf Prozent ihrer Lehrer.
Das stimmt. Viele, die sich im Durchschnitt
bewegen, sind relativ schnell vergessen, während man sich an den Superlehrer
später erinnert. Das muss aber nicht für alle Schüler derselbe Lehrer sein,
jeder hat unterschiedliche Stärken.
Gibt es Lehrer, denen Sie empfehlen würden, den Beruf zu wechseln?
Mit Sicherheit.
Den „faulen Säcken“, über die Gerhard
Schröder einst gemeckert hat? Sie
zitieren eine Studie: Manche Gymnasiallehrer arbeiten 3500 Stunden im Jahr,
andere kommen mit 930 Stunden aus.
Es gibt durchaus Superlehrer, die sich nicht
totarbeiten. So Sonnyboys zum Beispiel. Ich erinnere mich an einen Sportlehrer,
der kam in seinem Oldtimer in der Turnhose vorgefahren, sprang raus, machte auf
dem Sportplatz seine Stunde und verschwand wieder. Gleichwohl war der bei den
Schülern unheimlich beliebt.
Was ist mit den Dauerkranken, Schlechtgelaunten, Totalgestressten? Ihr
Buch legt nahe, dass solche Lehrer nicht Opfer widriger Rahmenbedingungen sind,
sondern die falsche Persönlichkeit mitbringen.
Das ist aus meiner Sicht ein Hauptproblem. Die
Lehrerpersönlichkeit ist entscheidend. Wir reden in der Ausbildung viel zu viel
über Methodenvielfalt. Dabei kommt es letztlich darauf an, wie jemand vorne vor
der Klasse steht. Ein Lehrer muss den Schülern vermitteln: Ich weiß mehr als
ihr; ihr könnt von mir was lernen. Und wenn er die Schüler dazu bringt, dass
sie das auch wollen, ist der große Schritt getan. Ich habe vielen Referendaren
beim Staatsexamen gesagt: Überlegen Sie sich das noch mal. Halten Sie das
wirklich 40 Jahre durch? Oder sind Sie vielleicht nach sechs, sieben Jahren
ausgebrannt und werfen hin?
Warum?
Wenn Lehrer diese gewisse Ebene mit den Schülern
nicht finden, müssen sie in jeder Stunde 150 Prozent geben, um überhaupt
vernünftigen Unterricht machen zu können. Die versuchen dann mit Strenge und Strafen
durchzusetzen, was ihnen an Führungspersönlichkeit fehlt. Das ist unheimlich
anstrengend. Und ich habe viele Kollegen gesehen, die deshalb irgendwann
zusammengebrochen sind. Wer in dem Job nicht glücklich ist und leidet, endet
als Wrack.
Der renommierte Bildungsforscher John Hattie sagt: Das Wichtigste für
den Lernerfolg der Kinder ist ein guter Lehrer.
Das habe ich lange vor Hattie gesagt. Das Problem
ist nur: Persönlichkeit kann man nicht lernen. Die Persönlichkeitsentwicklung
ist abgeschlossen, wenn Lehrer ins Referendariat kommen. Deshalb müsste man
sich vorher fragen: Bin ich der richtige für den Lehrerberuf?
Was braucht es denn, wenn es nicht die gute Ausbildung ist: Charisma?
Begabung?
Der erste Auftritt ist entscheidend. In meiner
eigenen Schulzeit haben wir in der siebten Klasse in Latein zwei Lehrerinnen
verschlissen. Die haben wir nicht ernst genommen, nach kurzer Zeit gaben sie
auf. Dann kam ein neuer Kollege, und schon als er die Tür aufmachte und den
Klassenraum betrat, war für uns klar: Von dem geht eine Aura aus, den schaffen
wir nicht.
Wie war Ihr erster Auftritt?
Fatal. Musikunterricht in der 9b, und als ich den
Klassenraum betrat, nahm niemand Notiz von mir. Keiner meinte, sich an seinen
Platz begeben zu müssen; alle waren am Reden. Dann haben die Schüler versucht
zu provozieren. Ich war damals 25 und wurde gefragt, ob ich eine Freundin habe.
Als der Begriff „Libretto“ fiel, ging es plötzlich darum, ob das eine Form des
Vibrators sei.
Sie haben cool reagiert.
Ich habe versucht, nicht auf das Thema
einzusteigen. Wir kamen dann ins Gespräch, und langfristig hat sich ein gutes
menschliches Verhältnis entwickelt. Aber Unterricht, und das ist das
Entscheidende, war schlicht nicht möglich.
Nach vier Jahrzehnten Schuldienst sagen Sie: Lehrer ist der beste Beruf
der Welt.
Das meine ich ernst. Mit jungen Leuten zu arbeiten
ist toll. Und da Lehrer heutzutage gern in ein schlechtes Licht gerückt werden,
will ich Interessenten Mut machen. Wer für diesen Beruf geeignet ist und sich
engagiert, findet eine sehr erfüllende Tätigkeit, die über viele Jahre hinweg
abwechslungsreich bleibt. Wenn ich heute im Fernsehen einen ehemaligen Schüler
sehe als Schauspieler, als Oberkirchenrat, als Sportmoderator, freue ich mich
und denke: An dieser Entwicklung bin ich, wenn auch nur zentimeterweise,
beteiligt gewesen.
Lehrer jammern gern: Die Klassen seien zu groß, die Schulen marode, und
außerdem würden die Schüler immer schwieriger. Übertrieben?
An manchen Stellen schon. Ich sage immer im Scherz,
man sollte das Jammern in die Lehrerausbildung übernehmen. Offenbar gehört es
dazu. Dabei werden damit oft eigene Schwächen übertüncht. Wenn ein Lehrer
klagt, er könnte nicht unterrichten, weil die Decke in seinem Klassenzimmer
nicht schön gestrichen sei, hängt das nicht miteinander zusammen. Das ist der
Versuch, eine Minderleistung abzuwälzen.
Aber wenn man Ihr Buch liest, wird man fast erschlagen von dem, was ein
Lehrer alles leisten soll als Konfliktmanager, als Sozialarbeiter, als
Kummerkasten. Und dabei immer supertoll auf jeden einzelnen Schüler abgestimmt
unterrichten.
Deshalb sage ich: Der Lehrerberuf ist nicht nur der
schönste, es ist auch ein sehr schwerer Beruf. Man hat sehr viel Verantwortung,
muss fachlich im Thema stehen und dieses ganze menschliche Feld abdecken. Die
Anforderungen sind sehr hoch. Aber ich habe das immer als Herausforderung empfunden.
Verdienen Lehrer zu wenig?
Nein. Die Lehrerbesoldung ist auskömmlich. Wenn
eine Krankenschwester klagt, die mit Schichtdienst und allem 1200 Euro nach
Hause bringt, kann ich das verstehen. Nicht bei einem Oberschullehrer, der 4700
Euro brutto verdient.
Bei Ihnen liest es sich ein bisschen so, als müssten angehende Lehrer
eher zum Stimmtraining oder zur Stylingberatung als in ein Didaktikseminar...
Weil ich die Priorität auf die Lehrerpersönlichkeit
lege. Ich habe an meiner Schule einen super Chemiker gehabt, der so in seinem
Fachwissen gefangen war, dass er kein vernünftiges Verhältnis zu seinen
Schülern aufbauen konnte. Dem nutzte sein Fachwissen gar nichts. Und ich kann
mich an den Unterricht einer Kollegin erinnern, die mit ihrer hohen Stimme im
Stimmengewirr der Kinder einfach unterging. Oder an eine, die einen so
weinerlichen Ton am Leib hatte, dass mir die Kinder leidtaten. In solchen
Fällen empfehle ich tatsächlich Stimmbildung. Auch die Kleidung sollte
angemessen sein. Über die supergestylte Kollegin machen sich die Schüler
lustig. Der Lehrer, der in Hawaiihemd und Dreiviertelhose zur Abiprüfung kommt,
signalisiert nicht den nötigen Ernst.
Viele der Schüler, die Sie für Ihr Buch befragt haben, wünschen sich
durchaus strenge Lehrer, die ihre Klasse im Griff haben.
Das hat mich auch überrascht. Aber Kinder brauchen
Orientierung. Sie brauchen ein abgestecktes Terrain, auf dem sie sich frei
bewegen können, dafür müssen bestimmte Regeln sein. Schüler wollen wissen, wie
weit sie gehen können.
Der Lehrer muss führen?
Jeder Lehrer ist Führungskraft. Das ist ja auch das
Schwierige, dass wir ohne Erfahrung in diese Position gesteckt werden. Wenn Sie
Ingenieur werden, sitzen Sie im Büro, kröseln vor sich hin und steigen
vielleicht irgendwann auf. In der Schule werden sie unvorbereitet in so eine
Position geworfen.
Sie schreiben: Lehrer haben in einer Unterrichtsstunde bis zu 200
Entscheidungen zu treffen und durchschnittlich 15 erzieherische
Konfliktsituationen zu meistern.
Ich war schon ein Jahr aus meiner Schule als
Oberschulrat in Lichtenberg raus, da kam ich zu Besuch, ging den Gang entlang,
es raunte „Stötzer kommt“ – und alles verschwand in den Klassen. Als ich den
Raum betrat, saßen die Schüler brav auf ihren Stühlen.
Sie sehen jetzt sehr zufrieden aus.
So eine Position erarbeitet man sich im Lauf der
Zeit. Wenn Sie an meine erste Stunde denken: Da war ich keine
Führungspersönlichkeit.
Was, wenn einer dafür überhaupt nicht gemacht ist?
Es müsste eine Möglichkeit geben, mit der
Lehrerausbildung auch etwas anderes zu machen. Derzeit gibt es kein Zurück.
Schon wer durchs Staatsexamen fällt, was selten passiert, stürzt ins Bodenlose.
Sie haben dann ein Studium absolviert, aber es gibt keine Möglichkeit, etwas
anderes damit zu machen. Man müsste sich eine Zeitlang ausprobieren und prüfen
können: Macht mir das tatsächlich Spaß? Trägt das vierzig Jahre? Die Haltung
des Lehrers überträgt sich auf die Kinder. Wenn ein Lehrer schon mit hängenden
Mundwinkeln in die Klasse geht, kommt dabei nichts raus.
Heute hat man oft den Eindruck, überehrgeizige oder überbesorgte Eltern
seien die eigentliche Herausforderung im Lehrerjob.
Wir haben zunehmend Eltern, die meinen, sie wissen,
wie der Lehrer mit ihrem Kind umzugehen hat. Elternhaus und Schule arbeiten
nicht mehr so eng zusammen. Wenn man aber die Autorität des Lehrers am Esstisch
untergräbt, indem man vor den Kindern schlecht über die Schule redet, kommen
die Kinder schon mit der Haltung in den Unterricht: Du kannst mir gar nichts,
mein Vater wird das klären.
Ihre Checkliste „Verhaltensregeln für Eltern“ umfasst 24 Punkte. Welcher
ist Ihnen der wichtigste?
Ein Vertrauensvorschuss für die Schule.
Akzeptieren, dass der Lehrer seinen Beruf studiert hat und sich bemüht, alles
so gut wie möglich zu machen.
Sie haben auch eine Checkliste, um die eigene Persönlichkeit für den
Lehrerberuf zu testen. Worauf kommt es besonders an?
Dass man Kinder mag. Überraschungen vertragen kann.
Nicht zu lärmempfindlich ist. Und Humor. Eine Unterrichtsstunde, in der nicht
mindestens einmal gelacht wird, ist eine schlechte Stunde.
Interessant ist der Widerspruch in der Argumentation: Während Stötzer freimütig zugibt, zu Beginn über keine Führungsqualitäten verfügt zu haben, masst er sich dennoch zu, Junglehrern vom Beruf abzuraten, weil sie eben nicht führen können oder den Kontakt zu den Jugendlichen nicht schaffen.
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