In Stammheim im Zürcher Weinland ist normalerweise wenig los. Höhepunkte im Jahreskalender der Riegelhaus-Gemeinde sind das Fasnachtsfeuer, der Jahrmarkt und der Tag der offenen Weinkeller. Normalerweise. Doch im Moment läuft nichts. Und so kommt es, dass ein paar bunte Luftballons hohe Wellen werfen. Dabei meinte es die junge Mutter und Naturheilpraktikerin nur gut. Sie hatte einen Marsch zum Schulhaus organisiert. «Ein Zeichen» wollte sie setzen, «dass damit eine rote Linie überschritten wurde». «Damit» heisst mit der Maskenpflicht für Kinder ab der 4. Klasse, die im Kanton Zürich gilt. Das sei eine «extreme Belastung» und ein «erhebliches Gesundheitsrisiko» für das Kind. Also marschierten dreissig Mütter und Väter mit Luftballons los, daran hingen bunte Zettel, auf denen sie unter anderem «Luft für unsere Kinder» forderten. Oder «Freiheit und Liebe». Der Marsch war von der Gemeinde bewilligt worden. «Wir wollten deeskalieren», sagt Schulpräsidentin Anita Fleury.
Aufstand der Eltern, NZZaS, 7.2. von René Donzé
Passiert ist das Gegenteil: Erboste Anrufe und Briefe gingen
bei ihr und der Gemeinde ein, nachdem Berichte in der «Andelfinger Zeitung» und
bei «Tele Top» erschienen waren. Eine Provokation für Risikopersonen seien die
Demonstranten, hiess es. Ein Vater drohte mit einer Anzeige, weil einige keine
Maske getragen hatten. Die Veranstalterin wurde vor die Gemeindebehörde
zitiert. Bussen gab es keine. Zwei Familien haben ihre Kinder aus Protest gegen
die Maskenpflicht aus der Schule genommen.
Stammheim ist Schweiz. Spätestens seit mit der britischen
Variante des Virus eine potenziell stärker ansteckende Variante das Land
erreicht hat, steigt die Nervosität an den Schulen, bei Eltern, Lehrern und
Schulleitern. «Der Ton wird zunehmend gereizt», sagt Thomas Minder, Präsident
des Schweizer Schulleiterverbands. Und: «Der Riss, der durch die Gesellschaft
geht, macht auch vor den Schulen nicht halt.» Denn es gibt nicht nur die
Maskengegner, sondern auch jene, die sich wehren, weil ihnen der Schutz der
Schüler zu lasch ist.
Zum Beispiel jene Familie im Kanton Baselland, die ihre
Kinder aus der Schule nehmen will. «Unsere Kinder werden als Kanonenfutter
missbraucht», sagt der Vater im Videogespräch und fährt sich mit der Hand durch
die Haare. «Die Schutzmassnahmen an den Schulen werden nicht gelebt», ergänzt
die Mutter. Sie fürchtet um die Gesundheit ihrer Kinder – nicht, weil sie zur
Risikogruppe gehören, sondern weil eine Covid-19-Erkrankung Langzeitfolgen
haben könnte. Doch als sie den 8-jährigen Sohn mit FFP-Maske in die Schule
schickte, wurde er bloss ausgelacht.
Einen Antrag auf Home-Schooling lehnten die Schulbehörden
ab: Ein Wechsel sei nur zum Schuljahreswechsel möglich. Den Eltern wurde mit
der Kindesschutzbehörde gedroht, sollten sie die Kleinen unbewilligt zu Hause
behalten. Nun zieht die Familie um – in den Kanton Aargau, wo Home-Schooling
jederzeit möglich ist. Die Kinder hätten keine Freude daran, ihr Umfeld zu
verlassen, sagt die Mutter. Aber: «Wir wollen uns später nicht vorwerfen
lassen, wir hätten nicht alles für ihre Gesundheit getan.»
Die Flucht aus der Volksschule ist die letzte Möglichkeit
für besorgte Eltern. Und es sind schon einige, die davon Gebrauch machen, wenn
Home-Schooling überhaupt möglich ist, wie etwa in den Kantonen Bern, Zürich,
Thurgau, Graubünden und Luzern. Bern führt den Anstieg von rund 660 Schülern
auf 820 innerhalb eines Jahres nicht auf Corona zurück, sondern auf einen
allgemeinen Trend. In Zürich ist der Fall klarer: Wie die NZZ berichtete, haben
allein in einer Klasse im Tösstal 10 von 21 Schülern ins Home-Schooling
gewechselt. Seit letztem Sommer ist die Zahl im ganzen Kanton von 280 auf 430
gestiegen. Ein zunehmendes Interesse registriert auch der Verein Bildung zu
Hause Schweiz. Seit Anfang Jahr geht dort pro Tag durchschnittlich eine
Neuanmeldung ein – unter anderem wegen Corona.
Bis Eltern auf die Strasse gehen, ihre Kinder von der Schule
nehmen und dafür sogar den Wohnort wechseln, braucht es viel. Der Aufstand
findet vorab online statt. So betreibt eine Gruppe von Aktivisten, die sich
wegen der Sicherheit der Kinder und der Verbreitung des Virus an Schulen sorgt,
neu eine Website, auf der alle Schulen aufgelistet werden, in denen es seit
Anfang Jahr zu Quarantänen gekommen ist. Auf schulcluster.ch sind
bereits 169 Einträge zu sehen, von einzelnen Klassen bis zu ganzen
Schulhäusern. «Es ist eine Katastrophe, dass diese Daten nicht von den Behörden
gesammelt werden», sagt eine Betreiberin. Es werde bewusst verwedelt, dass auch
die Kinder eine Rolle in dieser Pandemie spielten, obwohl die Fakten klar
seien. Diese Aktion mobilisiert wiederum die Gegenseite: Seit Mitte Woche wird die
Website mit Falschmeldungen geflutet – ausgehend von einem Aufruf einer
Facebook-Gruppe an «all die Antimaskenträger», die ebenfalls «die Schnauze
voll» hätten.
Andere sind gemässigter unterwegs: So hat eine Zürcher
Gruppe, der auch Politikerinnen aus SVP und FDP angehören, eine Online-Petition
lanciert, die bereits von 1700 Personen unterschrieben wurde. Und am rechten
Zürichseeufer sammelte ein Ehepaar 166 Unterschriften für einen offenen Brief
an Bildungsdirektorin Silvia Steiner.
Für den Schulleiterpräsidenten Thomas Minder sind all diese
Ausbrüche Zeichen einer Ermüdung, die sich breitmacht. Geschuldet sei diese
nicht zuletzt widersprüchlichen Signalen und unterschiedlichen Massnahmen in
den Kantonen. Gewisse Wissenschafter fordern Schulschliessungen, andere warnen
davor. Zuerst waren Masken nicht geeignet im Kampf gegen Corona, dann erst ab
zwölf Jahren und nun schon für kleinere Kinder. «Vieles ist für uns alle nicht
mehr einfach nachvollziehbar», sagt er. Dennoch stehe er hinter den Massnahmen
und Anordnungen der Behörden. «Diese werden von den Schulleitern konsequent und
kooperativ durchgezogen.»
Und schon zeichnet sich eine neue Kampfzone ab: Immer
häufiger werden ganze Klassen oder Schulhäuser durchgetestet. Einige Kantone
gehen sogar zu regelmässigen, flächendeckenden Kontrollen über – etwa
Graubünden, Basel-Landschaft, Zug oder Appenzell Innerrhoden. Auch hier gibt es
Widerstand von Eltern: So verweigerte etwa bei einer Kontrolle in Volketswil
ein Fünftel der Eltern die Tests.
Die kantonalen Ämter beschwichtigen: Schülerinnen und
Schüler würden nicht gezwungen. Allerdings müssten nicht getestete in
Quarantäne gehen. Doch bereits kursieren in einschlägigen Chats Geschichten von
weinenden Kindern, denen gegen den Willen der Eltern Abstriche genommen wurden.
Und es wird ein Merkblatt mit Musterbrief angeboten, mit dem sich Eltern
vorsorglich gegen Tests an ihren Kindern wehren können.
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