Für Generationen von Schülerinnen und Schülern gehörte die Frage zum Nachhausekommen wie das Amen in die Kirche: «Was häsch als Ufzgi?» Und wer erinnert sich nicht an die unschönen Diskussionen mit Mutter oder Vater, die mitunter folgen konnten.
Hausaufgaben sollen auch Schulaufgaben sein dürfen, NZZ, 14.1. von Lena Schenkel
Eine Schule ohne Hausaufgaben scheint bis heute für viele undenkbar. Schafft
eine Gemeinde diese ab, geht zuverlässig ein Aufschrei oder zumindest ein
Raunen durch die Medien – ob 2016 im thurgauischen Arbon, 2018 im luzernischen
Kriens und im bernischen Köniz, 2019 im obwaldnerischen Lungern oder wie jüngst
im zürcherischen Männedorf, wo Erst- bis Drittklässler seit Herbst keine
Aufgaben mehr mit nach Hause nehmen.
Dabei gehören Hausaufgaben
weder zum Bildungsauftrag der Volksschule, noch sind sie obligatorisch. Ob Hausaufgaben
erteilt werden oder nicht, liegt zumindest theoretisch im alleinigen Ermessen
des Lehrers oder der Lehrerin. Im Zürcher Volksschulgesetz zum Beispiel finden
sie noch nicht einmal Erwähnung.
Im kantonalen Lehrplan ist
lediglich festgehalten, dass Schüler allfällige Aufgaben verstehen müssen und
sie ohne Hilfe der Eltern lösen können sollten. Ausserdem dürfen keine
Hausaufgaben über Feiertage oder Ferien erteilt werden. Der in Zürich oft
angegebene Richtwert, wonach auf Primarstufe 10 Minuten pro Tag und Schuljahr
anfallen sollten (in der zweiten Klasse also 20, in der dritten 30 und so
fort), ist ebenfalls nur ein ungeschriebenes Gesetz.
Vorwurf der
«Kuschelpädagogik»
Doch wie so häufig bei
Themen an der Schnittstelle zwischen Schule und Elternhaus wird es auch in
Sachen Hausaufgaben schnell emotional – zumal es sich um eine pädagogische
Tradition handelt, die seit dem 15. Jahrhundert verbürgt ist.
Als die Schwyzer Regierung 1993 die Hausaufgaben abschaffte, war der Protest
von Politikerinnen, Lehrern und Eltern derart gross, dass sie ihren Entscheid
vier Jahre später revidierte. «Kuschelpädagogik» wurde dem Kanton unter anderem
vorgeworfen. Auch als sich der Deutschschweizer Schulleiterverband 2016 für
eine Abschaffung aussprach, schlug dies hohe Wellen, und er vermochte nicht die
kantonalen Sektionen hinter sich zu scharen.
Über Sinn und Unsinn von
Hausaufgaben streiten sich Pädagoginnen und Erziehungswissenschafter,
Schulleiter und Lehrerinnen sowie Eltern schon lange und immer noch, wobei die
Gräben mitten durch die Gruppen hindurch verlaufen. Die einen betrachten sie
als ideales Mittel, um Kindern Selbständigkeit beizubringen, und befürchten
schulische Leistungseinbussen, wenn sie entfallen. Andere sehen Hausaufgaben
als sinnlose Beschäftigungstherapie oder sogar Schikane, die nur für unnötige
Konflikte in den Familien sorgt.
Tagesschulen
bringen einen Kulturwandel
In Zürich hat die Diskussion
pro und contra Hausaufgaben mit dem Ruf nach mehr Tagesschulen neuen Auftrieb
erhalten. Denn wenn die Schule allein schon aufgrund der dort verbrachten Zeit
zum zweiten Zuhause wird, ist es sinnvoll, auch die Hausaufgaben in den
Schulalltag einzubinden – zumindest auf den unteren Schulstufen. Das kann mit
selbständigen Lerneinheiten in der Schulstunde oder über fixe Zeitfenster in
der unterrichtsfreien Zeit geschehen. Schon jetzt bieten die meisten Schulen
sogenannte Aufgabenhilfe-Stunden an.
Der Kulturwandel durch die Tagesschulen dürfte also dazu führen, dass die Haus- zu Schulaufgaben werden. Zeit, mit ein paar Mythen aufzuräumen:
Die Kinder lernen nicht mehr
selbständig zu arbeiten
Die Vorstellung, dass Kinder
ohne Hausaufgaben den Unterrichtsstoff nicht mehr eigenverantwortlich vertiefen
oder repetieren, geht von einer Schule aus, in welcher der Lehrer zumeist an
der Wandtafel steht und mit der ganzen Klasse den Stoff durchpaukt. Diese
Zeiten sind längst vorbei. Neben dem klassischen Frontalunterricht hat eine
Vielzahl von Unterrichtsformen im Klassenzimmer Einzug gehalten. Ziel der
modernen Schule ist ein bestmöglich auf das einzelne Kind zugeschnittener
Unterricht, der es mit verschiedenen Aufgabenformen fordert und fördert.
Das selbständige Lernen gehört selbstverständlich dazu – wobei Hausaufgaben nur
ein mögliches Gefäss dafür sind. Natürlich ergibt es aus lerntheoretischer
Sicht wenig Sinn, Vokabeln in der ganzen Klasse zu repetieren. Doch dafür
lassen sich Zeitfenster im Unterricht finden. Vor allem Erst- bis Drittklässler
haben sehr viele Lektionen bei ihrer Klassenlehrperson. Das gibt viel
Gestaltungsspielraum für fächerübergreifendes Arbeiten. Etwa mit
Atelierunterricht, bei dem die Kinder eigenständig an individuellen
Wochenzielen arbeiten.
Hausaufgaben sollten
eigenständig erledigt werden
Wenn das Ziel von
Hausaufgaben das selbständige Arbeiten ist, sollten sie idealerweise auch
entsprechend erledigt werden – also ohne Mutter oder Vater, die mehr oder
weniger intervenierend über die Schulter schauen. Bloss hat dies mit der
Realität wenig gemein. Schulkinder aus bildungsnahen Haushalten werden eher
dazu angehalten, die Hausaufgaben zu erledigen, und bei Fragen unterstützt.
Kinder aus benachteiligten
Familien wiederum haben vielleicht noch nicht einmal die nötige Ruhe oder einen
passenden Raum dafür. Auch im Corona-Lockdown hat sich gezeigt, dass vor allem diejenigen Kinder im
Fernunterricht leistungsmässig zurückfielen, deren Eltern nicht die Zeit oder
die Ressourcen hatten, sie zu unterstützen. Das gilt auch für die
Hausaufgaben. Sie in den Schulalltag zu integrieren, ist deshalb auch im Sinne
einer grösseren Bildungsgerechtigkeit.
Die Kinder verlernen, sich
selbst zu motivieren
Selbstkontrolle ist nur
begrenzt lernbar, indem man Hausaufgaben aufgibt. Dass im Lockdown manche
Kinder mit dem selbständigen Arbeiten im Fernunterricht besser zurechtkamen als
andere, dürfte neben den Bedingungen im Elternhaus auch mit ihrer
Persönlichkeitsstruktur zusammenhängen.
Wenn Haus- zu Schulaufgaben werden, besteht auf lange Sicht allerdings
tatsächlich die Gefahr eines Dauersupports. Spätestens ab der Sekundarstufe ist
es sinnvoll, Hausaufgaben aufzugeben, damit die Jugendlichen lernen, sich ihre
Zeit ausserhalb von geregelten Strukturen selbst einzuteilen und sich aus
eigenem Antrieb zu motivieren. Jüngere Kinder sind jedoch von sich aus
lernbegierig und müssen nicht speziell dazu gedrillt werden. Vielmehr sollte
ihnen der Spass am Lernen erhalten bleiben. Wenn das selbständige Arbeiten im
Unterricht genügend oft geübt wurde, sollte der Übergang kein Problem sein.
Kinder lernen weniger, wenn
sie daheim nur noch spielen
Spielen ist auch Lernen. In
jungen Jahren ist das freie Spiel sogar zentral für die kindliche Entwicklung.
Kinder trainieren damit ihre motorischen Fähigkeiten und ihr räumliches Denken.
Spielen sie allein, lernen sie, sich selbständig zu beschäftigen. Spielen sie
mit anderen, profitieren sie auf der sozialen und auf der sprachlichen Ebene.
Kinder lernen beim Spielen, zu führen oder geführt zu werden, zu gewinnen und
zu verlieren. Kurzum: Das freie Spiel fördert die sogenannt überfachlichen
Kompetenzen.
Weil Kinder heute früher
eingeschult werden, verkürzt sich diese wichtige Phase für viele von ihnen,
denn im schulisch und familiär durchgetakteten Alltag kommt es häufig zu kurz.
Dass es daheim keine Hausaufgaben mehr zu erledigen gibt, heisst freilich
nicht, dass es verboten ist, sich auch dort mit schulnahen Aufgaben zu beschäftigen.
Diejenigen Kinder, die Freude daran haben, können und sollen zu Hause immer
noch freiwillig lesen, das Einmaleins üben oder ein chemisches Experiment
wagen.
Ohne Hausaufgaben kommt es zu
Leistungsdefiziten
Wissenschaftliche
Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Hausaufgaben sind nur begrenzt
aufschlussreich. Zum einen lassen sich internationale Studien aufgrund der unterschiedlichen
Schulsysteme nur schwer auf hiesige Verhältnisse übertragen. So haben
Hausaufgaben etwa in Deutschland, wo in der Regel um 13 Uhr Schulschluss ist,
einen anderen Stellenwert als an Schweizer Schulen mit ihren dichten
Stundenplänen. Gesichert scheinen aus wissenschaftlicher Sicht aber folgende
vier Erkenntnisse: Zunächst sind Hausaufgaben nur einer von vielen Faktoren für
den Lernerfolg. Sie belegen in einer Studie des neuseeländischen
Bildungsforschers John Hattie Rang 88 von 138 und haben somit einen eher
geringen Einfluss.
Daraus zu schliessen, dass
Hausaufgaben gar nichts bringen, wäre aber falsch. Die zweite Erkenntnis lautet
nämlich, dass sie auf höheren Schulstufen und bei einer guten Qualität durchaus
höhere Effekte erzielen können. Drittens ist die Hilfe der Eltern entscheidend.
Sie kann indes kontraproduktiv sein, wenn die Schulkinder sich dadurch unter
Leistungsdruck gesetzt fühlen. Viertens schliesslich ist der Lerneffekt von
Hausaufgaben abhängig von der Persönlichkeit beziehungsweise Arbeitsweise der
Schüler: Je gewissenhafter, desto effektiver. Insgesamt lässt sich aber
durchaus argumentieren, dass sich Hausaufgaben angesichts des eher geringen
Ertrags zumindest auf den unteren Schulstufen nicht lohnen.
Hausaufgaben erhöhen die Übungszeit
Über die neun Jahre der
Volksschule gesehen, fehlten ohne Hausaufgaben an die 700 Stunden Lernzeit,
rechnen deren Verfechter vor. Abgesehen davon, dass die maximal 30 Minuten am
Tag auf der Unterstufe zeitmässig kaum ins Gewicht fallen, ist nicht die Dauer,
sondern die Qualität der Aufgaben laut wissenschaftlichen Erkenntnissen
entscheidend. «Minütele» ist auch bei den Hausaufgaben die falsche Strategie,
und man braucht im Falle einer Abschaffung auch nicht die Lektionenzahl zu
erhöhen. Zudem geben manche Lehrerinnen viele, andere fast keine Hausaufgaben
auf.
Eltern verlieren den Einblick
in den Schulalltag
Es gibt für Mütter und Väter
zahlreiche Alternativen, sich über das schulische Geschehen zu informieren,
etwa an Elternabenden oder Besuchstagen, aber auch mittels regelmässiger
Standortgespräche mit dem Lehrer der Tochter. Daneben können Wochenjournale oder
ähnliche Gefässe den Eltern einen Überblick zum Lernstand verschaffen. Ohnehin
hängen wohl die wenigsten an den Hausaufgaben an sich. In vielen Familien
sorgen sie für Streit, Frust und Dauerstress. Laut Untersuchungen ist das
Entfallen der Hausaufgaben für viele Eltern sogar ein Grund, ihre Söhne und
Töchter auf eine Tagesschule zu schicken.
Seit es Hausaufgaben gibt,
wird wohl über ihren Nutzen diskutiert. Es ist deshalb zu begrüssen, dass die
Tagesschule die Diskussion neu lanciert. Denn es gibt längst gute und bewährte
Alternativen, kleine Kinder zum selbständigen Lernen zu motivieren. Ab einem
bestimmten Alter sollten sie jedoch mit Hausaufgaben auf den Ernst des Lebens
vorbereitet werden. Schliesslich ist genau das der Auftrag der Volksschule: sie
fit fürs Arbeitsleben zu machen.
Als Lehrling oder Studentin
müssen sie, bildlich gesprochen, ohne Schwimmhilfen auskommen. Die Berufsschule
findet nur noch an einem Wochentag statt. Es gilt, innert Wochenfrist Aufträge
abzuarbeiten und den Stoff eigenständig zu vertiefen. An der Universität hält
einem niemand mehr die Hand, wenn es ums Pauken geht, und wer fristgerecht
Seminararbeiten einreichen will, muss sich organisieren können.
Spätestens ab der Sekundarstufe ergibt es deshalb Sinn, Schülerinnen und Schülern
Hausaufgaben im klassischen und wörtlichen Sinn mit nach Hause zu geben. Sie
lernen daraus aber nur, wenn auch ihre Eltern es schaffen, sie tatsächlich
selbständig arbeiten zu lassen, und nicht mit der Trillerpfeife und
Rettungswesten am Beckenrand stehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen