Nach Hause kommen und nichts mehr für die Schule tun müssen: Wovon manche ihre gesamte Bildungskarriere lang träumen, gehört für Erst- bis Drittklässler in Männedorf am Zürichsee seit kurzem zum Alltag. Sie haben seit Oktober keine obligatorischen Hausaufgaben mehr.
Warum in Zürich das Ende der Hausaufgaben naht, NZZ, 14.1. von Lena Schenkel
So könnten sie ihre Freizeit nach einem langen Lerntag sinnvoll nutzen,
heisst es dazu in der an die Eltern abgegebenen Broschüre. Anstatt vor dem
Abendessen noch Rechenaufgaben lösen oder Englischvokabeln büffeln zu müssen,
können sie mit ihren Geschwistern oder Nachbarskindern spielen, mit dem Vater
Guetzli backen oder unbeschwert ins Fussballtraining.
Moria Zürrer leitet die Unterstufe der Schule Männedorf. Sie koordiniert
das Pilotprojekt, das vom Lehrerteam angestossen worden ist. «Wir möchten, dass
die Kinder ihre Freude am Lernen und ihre Lernmotivation möglichst durchgängig
erhalten», erläutert sie einen der Hintergründe.
Schüler haben mehr, nicht weniger Eigenverantwortung
Die Sechs- bis Achtjährigen verbrächten schon jetzt sehr viel Zeit an
der Schule. «Sie haben sich einen Spiel- und Freiraum in ihrer Kindheit
verdient», sagt Zürrer – zumal Kinder heute früher eingeschult würden. Schüler
seien in diesem Alter in einer heiklen Lernphase. Übe man zu viel Druck auf sie
aus, könne ihnen die Schule schnell einmal verleiden.
Dass die Erst- bis Drittklässler keine obligatorischen Hausaufgaben mehr
haben, bedeutet freilich nicht, dass sie nicht mehr selbständig lernen. Die
individuelle Lernzeit ist an der Unterstufe Männedorf ein fester Bestandteil
des Unterrichts.
«Während das eine Kind also zum Beispiel das Lesen trainiert, üben zwei
andere die Vierer- und die Achterreihe. Einige ihrer Klassenkameradinnen widmen
sich der Gestaltung eines Plakats, und eine andere Kindergruppe schreibt an
ihrer Geschichte weiter», illustriert die Klassenlehrerin Dorothea Fischer Del
Prete eine solche Unterrichtssequenz.
In welchem Fach und auf welchem Niveau sie ihre Kenntnisse vertiefen,
entscheiden die Schüler in Absprache mit der Lehrerin weitgehend selbst. Für die
einzelnen Kinder und Klassen gilt es jedoch, Tages- und Wochenpläne
abzuarbeiten. Die Lehrerin beobachtet und unterstützt bei Fragen, oder sie
spricht beispielsweise eine Schülerin darauf an, wenn sich diese immer unter-
oder überschätzt.
Zu Hause haben nicht alle dieselben Bedingungen
Die Schulleiterin Zürrer sagt dazu: «Das ist für die Lehrerinnen
natürlich anspruchsvoller, als den Schülern um 16 Uhr einfach noch ein
‹Ufzgi›-Blatt in die Hand zu drücken.» Sie ist überzeugt davon, dass die Kinder
so nicht nur mehr Spass am Lernen haben, sondern Schritt für Schritt das
selbständige Arbeiten erlernen – also zu planen, die Zeit einzuteilen und ihr
Können einzuschätzen. «Dadurch denken sie auch früh über ihr Lernen nach und
übernehmen dafür Verantwortung», sagt Zürrer.
Zudem arbeiteten in der Schule alle unter ähnlichen Bedingungen, während
zu Hause die eine Schülerin beim Lösen der Hausaufgaben vielleicht
«überbegleitet» werde und die andere beim Lernen komplett unbeaufsichtigt
bleibe. Wieder andere hätten vielleicht kein eigenes Zimmer oder es laufe
andauernd der Fernseher. Wenn alle dieselben Chancen hätten, sagt Zürrer, sei
das auch im Sinne der Bildungsgerechtigkeit.
Hausaufgaben sind nicht obligatorisch
Die Schule Männedorf ist mitnichten die erste im Kanton, welche die
Hausaufgaben im klassischen Sinne zumindest teilweise abschafft. Wie viele der
157 Zürcher Primarschulgemeinden die Frage ähnlich handhaben, ist allerdings
nicht bekannt. Einen Überblick haben weder das Volksschulamt noch Lehrer- oder
Schulleiterverbände.
Grundsätzlich hängt der Entscheid für oder wider Hausaufgaben von der
Lehrperson ab und fällt in deren Methodenfreiheit. Ein einheitliches Vorgehen
nach Stufe oder Schule sei wünschenswert, aber nicht vorgeschrieben, heisst es
beim Zürcher Lehrerverband. Das Volksschulamt hält auf Anfrage fest, dass
übergeordnete Entscheide wie jener, auf einer bestimmten Stufe auf Hausaufgaben
zu verzichten, mit der Schulleitung und allenfalls der Schulpflege abgesprochen
werden müssten.
Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass Hausaufgaben in Zürich mittel-
bis langfristig zu Schulaufgaben werden, die nicht länger am Kinderzimmerpult
oder am Küchentisch erledigt werden. Schon jetzt bieten viele Schulen betreute
Aufgabenstunden an: Schülerinnen und Schüler erhalten über Mittag oder nach
Schulschluss die Möglichkeit, ihre «Ufzgi» zu erledigen. Eine Lehrerin oder ein
Betreuer sorgt für die nötige Ruhe und Ordnung und unterstützt sie allenfalls
bei Fragen oder Unklarheiten.
Tagesschule als Treiber von Schulaufgaben
Was ursprünglich vor allem als freiwilliges Angebot für Schulkinder aus
bildungsfernen Haushalten gedacht war, könnte mit der zunehmenden Zahl an
Tagesschulen für alle zur Norm werden. In der Stadt Zürich ist die sogenannte
Aufgabenhilfe jedenfalls ein fixer, wenn auch freiwilliger Bestandteil des
Tagesschulmodells, das derzeit an 23 Schulen erprobt wird und dereinst
flächendeckend eingeführt werden soll. Das Stadtparlament hatte dafür sogar
eigens das Projektbudget erhöht. Weiter hat es beschlossen, die Mittel für
Aufgabenstunden auch für Regelschulen ab diesem Schuljahr 2020/21 zu erhöhen.
Die Stadt Zürich erarbeitet derzeit in Zusammenarbeit mit Forschenden der
Pädagogischen Hochschule ein Positionspapier zum Thema.
Tagesschulen verzahnen Unterricht mit Betreuung und sollen Eltern dabei
helfen, Familien- und Berufsleben zu vereinbaren. Da ist es organisatorisch
naheliegend, die Hausaufgaben in irgendeiner Form in die schulische
Tagesstruktur einzubinden – ob mit Zeitfenstern für eine Aufgabenhilfe wie in
der Stadt Zürich oder einer individuellen Lernzeit im Unterricht wie in
Männedorf. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die klassischen Hausaufgaben
in diesem Modell ganz entfallen.
Die Tagesschule könnte also schleichend und quasi durch die Hintertüre
das Ende eines alten Streits für und wider Hausaufgaben einläuten. Von
Bildungswissenschaftern werden sie wahlweise als überholtes pädagogisches
Ritual oder aber als wirksame Lernform bezeichnet; Studienergebnisse stützen
sowohl die eine als auch die andere Aussage. Doch nicht nur unter Lehrern,
Schulleiterinnen und Bildungsexperten ist eine Abschaffung umstritten, sondern
auch unter Eltern.
Die Eltern müssen mit einbezogen werden
Das zeigt auch eine Umfrage der Kantonalen Elternmitwirkungsorganisation,
welche im November durchgeführt worden ist. Von 2531 befragten Zürcher Eltern
erachteten zwei Drittel Hausaufgaben als «wichtig» (41 Prozent) oder «sehr
wichtig» (19 Prozent). Ein Viertel der Befragten bezeichnete sie dagegen als
«wenig wichtig», 8 Prozent als «gar nicht wichtig». In den Hunderten dazu
abgegebenen Kommentaren wurde wiederum vor allem Kritik an den Hausaufgaben
laut. Die Kinder seien nach den schon langen Schultagen zu müde dafür, lautete
eine oft geteilte Meinung.
In Männedorf sorgte das Pilotprojekt zu Beginn ebenfalls für gemischte
Gefühle, heisst es beim Elternrat auf Anfrage. Manche Eltern empfänden die
Abschaffung als entlastend, da Hausaufgaben in vielen Familien für Stress und
Frust sorgten. Sei es, weil die Kinder deren Erledigung aufschöben oder
verweigerten und die Eltern sich verpflichtet fühlten, ihnen hinterherzurennen.
Sei es, weil sich die Buben und Mädchen durch die Beaufsichtigung und
vermeintliche Hilfe ihrer Mütter und Väter schikaniert fühlten.
Es gebe aber auch Eltern, die sich um den schulischen Erfolg ihrer
Kinder sorgten. Sie befürchten, dass ihre Kinder weniger Schulstoff lernen und
ohne Hausaufgaben im Bildungswettbewerb schlechtere Karten hätten. Andere
bemängelten, dass sie den Einblick in den Schulalltag und die Kontrolle über
den Lernfortschritt ihrer Kinder verlören.
An der Unterstufe Männedorf gibt es deshalb neu einen «Zeigetag»: Die
Primarschüler bringen zum Beispiel eine gelungene Zeichnung oder Mathe-Aufgaben
nach Hause und berichten den Eltern von einem Lernerlebnis. Zudem legen Lehrer
mit Schülerinnen und Eltern in Fördergesprächen gemeinsam Lern- und
Entwicklungsziele fest.
Projekt wird wissenschaftlich ausgewertet
Hinsichtlich der zu erreichenden Lernziele strebe die Schule Männedorf
eine «maximale Transparenz» gegenüber den Eltern an, sagen die
Projektverantwortlichen. Was das befürchtete schulische Defizit betrifft,
verweisen sie auf den bekannten neuseeländischen Bildungswissenschafter John
Hattie. Dessen Forschungsergebnisse hätten gezeigt, dass gerade bei jüngeren
Kindern der Effekt von den Hausaufgaben auf den Lernerfolg unbedeutend sei.
Deshalb hat die Schule Männedorf vorerst nur die Unterstufe von den
obligatorischen Hausaufgaben befreit. Eine Ende Schuljahr geplante Evaluation
werde zeigen, in welche Richtung sich das Pilotprojekt bewegen werde, sagt die
Schulleiterin Zürrer.
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