China hat eine der ältesten und längsten Traditionen im Bildungswesen, die allerdings immer wieder durch schwere Rückschläge unterbrochen wurden. Das gegenwärtige Schulsystem mit dem Pisa-Spitzenplätze erreicht werden, wurde ab Mitte der 1980er Jahre aufgebaut.
Volksschule in China, Peter Aebersold, 12.5.
Die geistige Entdeckung Chinas war eines der Ergebnisse der Aufklärung. „Diese Völker“, schrieb Diderot über die Chinesen, „sind allen andern Völkern überlegen an Alter, Geist, Kunst, Weisheit, Politik und in ihrem Geschmack für die Philosophie.“ „Die Grundsubstanz dieses Reiches“, sagte Voltaire, „hat Jahrtausende überdauert, ohne dass sich das Recht, die Sitten, die Sprache, ja selbst die Kleidung merklich verändert hätten.“
Tausendjährige Hochkultur
Das erste Bildungswesen existierte von 1600 bis 1046 v. Chr. während der Shang-Dynastie und war von der konfuzianischen Philosophie geprägt. Aus dieser Zeit sind die ersten Vorformen der heutigen chinesischen Schrift auf Orakelknochen überliefert. Staatliche Akademien (Shuyuan) boten ab dem 9. Jahrhundert Bildung auf universitärem Niveau an. Daneben gab es Schulen in daoistischen und buddhistischen Klöstern. Das Kaiserreich bot während mehr als tausend Jahren allen Menschen demokratisch die Möglichkeit einer Schulung, um die Ausübung des Regierungsamtes aristokratisch auf diejenigen zu beschränken, die sich als die Besten erwiesen. Es gab jedoch keine Schulpflicht. In Europa dauerte es bis ins späte 19. Jahrhundert, bis sich bei der Besetzung öffentlicher Ämter ähnliche Grundsätze durchsetzen konnten.
Kolonialisierung zerstörte das Bildungswesen
Im Zuge der Kolonalisierung Chinas durch die europäischen Grossmächte und die Vereinigten Staaten brach das Bildungswesen in der Mitte des 19. Jahrhunderts fast völlig zusammen und die Analphabetenrate lag bei 80 Prozent. Nach der Wiedervereinigung Chinas im Jahre 1928 begann die Kuomintang Partei mit einer landesweiten Schulreform, um die Entwicklung der Republik und der Wirtschaft zu fördern. Der Chinesische Bürgerkrieg (1927-1949) verhinderte die Umsetzung dieser Pläne.
Schwieriger Wiederaufbau nach sowjetischem Muster
Nach der Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949 wurde zuerst die Grundschule nach dem Vorbild der Sowjetunion mit einer allgemeinen Schulpflicht eingeführt. Später wurden die Universitäten mit Hilfe sowjetischer Berater aufgebaut. Die Lehrmittel wurden aus der Sowjetunion importiert und übersetzt. Ebenso wurde deren Fächerkanon an den Schulen und Universitäten übernommen. Trotz grossen Anstrengungen der Kommunistischen Partei Chinas gelang es vorerst nicht, ein flächendeckendes Schulsystem einzuführen. Um das Analphabetentum besiegen zu können, wurden von 1949 bis 1951 über 60 Millionen Bauern an Winterschulen unterrichtet. In den 1950er Jahren entstanden in den Städten der neuen Volksrepublik China eine Reihe von berufsbildenden Facharbeiter- und Fachmittelschulen nach dem Vorbild der Sowjetunion. In diesen Schulen lernten die für den Wirtschaftsaufbau dringend benötigten Arbeitskräfte als Erstes Lesen und Schreiben. Bis 1957 besuchten fast 50 Prozent aller Schüler der Mittelschulstufe diese berufsbildenden Schulen. Die Ausrichtung des Bildungswesens am sowjetischen Vorbild endete mit dem gegenseitigen Konflikt (1950er bis 1980er Jahre).
Mit der
Kampagne des „Großen
Sprungs nach vorn“ von 1958 bis 1961 sollten die drei Unterschiede
Land-Stadt, Kopf-Hand, Industrie-Landwirtschaft eingebnet werden. Als
Gegenreaktion und Kritik am sowjetischen Modell, das sich vor allem auf die
Industrie konzentrierte, wurden in China sämtliche Programme
auf die Landregionen zugeschnitten. Dazu wurden überall, wenig beliebte, landwirtschaftliche Mittelschulen (Arbeits- und Lernschulen) eingerichtet, bei denen neben dem Lernen auch gearbeitet wurde (Schulgarten, Fabriken). 1965 besuchten rund 85 Prozent der sechs- bis zwölfjährigen Chinesen eine Grundschule. Die Lehrerausbildung hinkte der gestiegenen Schülerzahl hinterher und verschlechterte das allgemeine Bildungsniveau. Bei den Hochschulen nahmen die Neugründungen und die Studentenzahlen zu.
Erneuter Niedergang durch die Kulturrevolution
Die „Kulturrevolution“
von 1966 bis 1976 führte zum erneuten Niedergang des Bildungswesens. Fast alle
Schulen des Landes und die Universitäten waren längere Zeit geschlossen.
Schüler und Studenten wurden politisiert, statt Aufnahmeprüfungen gab es
politische Empfehlungen, um damit eine Elitebildung verhindern zu können. Die
Hochschulausbildung wurde auf drei Jahre verkürzt und die Studenten für einen
vorgängigen zweijährigen Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft verpflichtet.
Reform- und Öffnungspolitik
Bildung und Erziehung in der
Volksrepublik China sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts
von den Ideen von Konfuzius, Menzius, Mao
Zedong und Deng Xiaoping geprägt. Nach Maos Tod erfolgten ab 1978 im Zuge der Reform-
und Öffnungspolitik mehrere Schulreformen. Die Schulzeit wurde sukzessive auf
zwölf Jahre erweitert und der zweijährige Arbeitseinsatz für Hochschulbewerber
entfiel.
Ab Mitte der 1980er Jahre investierte der chinesische Staat grosse
Summen in sein Bildungssystem. Der im Mai 1985 veröffentlichte „Beschluss über
die Reform des Bildungswesens“ bildet bis heute die Grundlage für das
Schulsystem. 1986 wurde eine allgemeine neunjährige Schulpflicht
eingeführt. Auf der Grundlage des
Bildungsgesetzes von 1995 und des Berufsbildungsgesetzes von 1996 soll der
Forderung nachgekommen werden, dass möglichst jeder chinesische Arbeitende beim
Eintritt ins Berufsleben über eine berufliche beziehungsweise schulische oder
gar akademische Ausbildung verfügt. Weitere Schulreformen erfolgten in den
Jahren 1996, 1999 und 2006.
Dezentrale Bildungshoheit
Das Ministerium für Bildung in Peking, welches die
Rahmenkompetenz für Strukturen im Schul- und Hochschulwesen ausübt, ist die
oberste Bildungsbehörde. Deren Befugnisse wurden in den 1990er Jahren zugunsten
der verfassungsrechtlich garantierten Autonomierechte der Provinzen reduziert.
Diese können Bildung in finanzieller, personeller und inhaltlicher Hinsicht
grundsätzlich autonom
umsetzen.
China nimmt am UNESCO
Bildungsprogramm „Education for All“ (EFA) teil. Es hatte 2001 einen
Alphabetisierungsgrad von 98 Prozent der Bevölkerung erreicht. Seit der
Bildungsreform von 2006 dürfen während der Schulpflicht keine Schulgebühren und
Extragebühren (Nachhilfestunden) an Schulen erhoben werden.
Freiwilliger Kindergarten
Der Besuch des Kindergartens ist freiwillig und wird von
Städten, Gemeinden, Kirchen, Betriebe und Privaten angeboten. Er kann im Alter
von drei bis fünf Jahren beginnen und dauert bis zum sechsten oder siebten
Lebensjahr. Im Vordergrund steht eine altersgerecht emotionale Erziehung, die
Kinder pädagogisch und sozial auf den Besuch der Grundschule vorbereitet.
Kindergartenlehrer besuchen vier Jahre lang eine berufsbildende Sekundarschule.
Im Kindergarten unterrichten drei Kindergärtnerinnen eine Gruppe von etwa 35
Kinder.
Sechs Jahre Grundschule
Die Grundschule, meistens als Ganztagesschule, dauert sechs
Jahre, in ländlichen Gegenden teilweise fünf. Die Kinder werden mit sechs oder
sieben Jahre eingeschult. Die Anzahl der Schulstunden beträgt 26 bis 30 pro
Woche, eine Unterrichtseinheit dauert 50 Minuten. Zu den Fächern gehören:
Chinesisch, Mathematik, Sport, Naturwissenschaften, Musik und Kunst und ab der
3. Klasse Englisch. Konfuzianische
Lehrinhalte sind Teil des schulischen
Bildungskonzeptes.
Sechs Jahre Sekundarstufe
Die Sekundarbildung
an den Mittelschulen
ist aufgeteilt in drei Jahre Unterstufe und drei Jahre Oberstufe.
Dies können allgemeinbildende und berufsbildende oder technische Mittelschulen
sein. Der Fächerkanon umfasst: Chinesisch, Mathematik, eine Pflichtfremdsprache
(meist Englisch), Physik, Chemie, Biologie, Technik, IT, Sport, Kunst, Musik, Ethik,
Wirtschaftskunde, Geschichte und Erdkunde. Eine Unterrichtseinheit beträgt 45
Minuten; pro Woche 35 Unterrichtseinheiten.
Effizienter Klassenunterricht, effektives Lernen
In der Praxis sind unsere „neuen
Formen“ des Unterrichtens und Lernens in China bisher nur in
begrenztem Umfang implementiert
worden. Die Unterrichtsinhalte sind klar vorgegeben und daher praktisch
identisch an allen Schulen. Es wird sehr nahe am Schulbuch gearbeitet.
Wissensabfragen und Tests führen dazu, dass die Richtigkeit der Ergebnisse
wichtiger sind als die Lernprozesse. Informations- und
Kommunikationstechnologien werden meist nur von den Lehrkräften eingesetzt (Powerpoint-Präsentationen).
Gemeinsamer Klassenunterricht, das Abfragen kurzer Antworten sowie das Antworten
und Wiederholen im Chor sind weit verbreitete Unterrichtstechniken. Auswendiglernen, wiederholen und
exaktes Einprägen ist nach chinesischer Auffassung eine ausgezeichnete Übung zur
Ausbildung von zusätzlichen Fähigkeiten wie Geduld, Ausdauer und Konzentration auf
eine bestimmte Sache wie das Schreiben und Lesen der komplexen chinesischen
Schriftzeichen. Selbständiges
Arbeiten und Gruppenarbeit werden seltener und nur kurz eingesetzt.
Wertschätzung von Lernen,
Lehrern und Bildung
Eine
internationale Forschungsstudie zeigt, was China und die anderen ostasiatischen
Länder auszeichnet: Sie halten gute Leistungen nicht
für nur auf die Schülergruppe mit hoher Intelligenz begrenzt, sondern pflegen
eine demokratischere Einstellung: Fleiss und effektives Lernen eröffnen allen
SchülerInnen ausgezeichnete Lernperspektiven (Konfuzius). Schulische Erfolge
sind ihrer Überzeugung nach aber keineswegs eine Folge von Strebertum, das
heisst von ehrgeizigem Egoismus. Leistungsstarken Schülern werden hohe soziale
Kompetenzen zugeschrieben. Es ist attraktiv, in China gute Leistungen zu
bringen. Chinesischen Schüler gehen, nicht wie bei uns, automatisch davon aus,
dass ein Klassenkamerad mit sehr guten Leistungen über eine besonders hohe
Intelligenz verfügen müsse. Dies stimmt mit der in vielen Studien gefundenen
Überzeugung in asiatischen Kulturen überein, dass gute Leistungen vor allem
Früchte von Fleiss und effektivem Lernen sind. Das hat wenig Ähnlichkeit mit
unserem westlichen Druck-Drill-Demut-Stereotyp über das chinesische
Bildungswesen. Gesellschaftlich geniesst der Beruf des Lehrers hohe Anerkennung,
weil Wertschätzung gegenüber Lehrenden ein Aspekt der chinesischen
Lerntradition ist.
Bei uns werden
leistungsstarke Schüler für tendenzielle Streber gehalten, die sozial wenig
kompetent sind, und man glaubt, dass ohne eine hohe Intelligenz die Aussichten
auf sehr guten schulischen Erfolg klein wären. Wie auch die PISA-Studie zeigt,
bringen asiatische Länder klar bessere schulische Leistungen, sie sind sogar in
manchen Fächern um Schuljahre voraus. Es scheint daher höchste Zeit, dass wir
uns ganz nüchtern fragen, was wir von China, dem Patentweltmeister und klaren
PISA-Sieger lernen können.
Quellen:
Barbara Schulte: China. In: Die Bildungssysteme der erfolgreichsten PISA-Länder: China, Finnland, Japan, Kanada und Südkorea. Lund University, Schweden 2017.
Albert Ziegler, Bettina Harder, Susanne Trottler: Chinas Erfolg bei PISA: Zufall oder Artefakt? Landesweite Beratungs-und Forschungsstelle für Hochbegabung an der Universität Erlangen-Nürnberg 2014.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schulsystem_in_der_Volksrepublik_China#cite_note-bc-7
https://blog.hueber.de/unterrichten-in-china-respekt-vor-dem-lehrer/
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