Mobbing
an Schulen kann Kindern das Leben zur Hölle machen – und bis zum Suizid führen.
In der Ausbildung lernen Lehrer heute, wie sie Schikane verhindern können. Nur:
Kommt das Wissen auch zur Anwendung? Es bestehen Zweifel.
So sollen Lehrer Psychoterror in Klassen verhindern, Blick, 4.3. von Silvia Tschui
Mobbing –
also das gezielte, wiederholte Fertigmachen Einzelner, das von einer Gruppe
ausgeht, liegt in der menschlichen Natur.
Schon der
mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989)
sagte sinngemäss, Aggression diene im weitesten Sinne der Arterhaltung – viele
Tierarten greifen Artgenossen an, die von der Norm abweichen, und stellen so
ihre genetische Unversehrtheit sicher.
Auch
Mobbingopfer am Arbeitsplatz oder in der Schule werden oft wegen einer realen
oder von Anführern erfundenen Andersartigkeit ausgegrenzt. Treffen kann dies
jeden. Was aber im Tierreich oder vielleicht in der Steinzeit auch bei Menschen
einen unmittelbaren, genetisch-evolutionären Sinn hatte, dient heute anderem:
Mit dem Ausgrenzen anderer lässt sich kurzfristig die eigene soziale Stellung
stärken.
Mit
schrecklichen Folgen: Opfer leiden gemäss Studien im späteren Leben öfter unter
Depressionen und Angststörungen als Vergleichsgruppen. Sie haben auch ein
erhöhtes Suizidrisiko. Langfristig gesehen ist Mobbing aber auch für Täter schädlich: Sie kommen im Erwachsenenalter
öfter mit dem Gesetz in Konflikt, etwa wegen Diebstahl oder Körperverletzung,
und haben generell eher psychische Probleme, vergleicht man sie mit Menschen,
die früher nicht gemobbt haben.
Trotzdem
kommt es immer wieder zu Fällen an Schulen, in welchen massiv gemobbt wird
– zuletzt in Wiesendangen ZH, wo sich ein 15-jähriges
Mädchen nach monatelanger Schikane durch Klassenkameraden zu Tode hungern
wollte (BLICK berichtete). 2017 nahm sich die 13-jährige
Sabrina aus Spreitenbach AG nach massivem Mobbing das Leben.
Lehrer müssen von Anfang an eingreifen
Schulen,
so stellt sich der Eindruck ein, stehen dem Phänomen hilflos gegenüber, bleiben
untätig, schieben die Schuld sogar auf das Opfer. Wissen Lehrer schlicht nicht,
wie mit Mobbing umzugehen ist? Eine Nachfrage an fünf pädagogischen Hochschulen
in Bern, Zürich, St. Gallen, Thurgau und der
Nordwestschweiz ergibt: Heute ausgebildete Lehrer wissen dies sehr wohl. An
Universitäten und in der Psychologie wird seit den frühen 1990er-Jahren
umfassend zu Mobbing
geforscht. Alle angefragten
Hochschulen bieten denn auch innerhalb der Lehrerausbildung Module an, um
Mobbing zu minimieren.
Dazu
gehören gemäss Alexander Wettstein, Leiter des Forschungsschwerpunkts Soziale
Interaktion und Professor für Pädagogische Psychologie an der PH Bern, vier
Zutaten. Eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung sei das Wichtigste, gefolgt von
«niederschwellig präventivem Eingreifen». Das bedeutet, dass die Lehrperson
schon bei kleinen Verfehlungen reagiert und eingreift – etwa wenn
Klassenkameraden lachen, wenn ein Schüler etwas Falsches sagt. «Dann sofort
einzugreifen und zu sagen, solch ein Verhalten dulde ich in meiner Klasse
nicht, so gehen wir nicht miteinander um – dies hat einen grossen Einfluss»,
sagt Wettstein.
Ein
solches Klima von Anfang an zu schaffen, habe eine enorme Wirkung innerhalb der
Klasse und könne so potenziellem Mobbing einen guten Teil des Nährbodens
entziehen. Auch ein anregender Unterricht hilft – wer aufpasst und interessiert
ist, kommt seltener auf dumme Gedanken als jemand, der sich langweilt. Zu guter
Letzt, sagt Wettstein, gehöre eine «diagnostische Kompetenz» zu den vier
Zutaten, welche Mobbing verhindern.
Darunter versteht er, als Lehr-person ein Gespür dafür zu entwickeln, wann etwas nicht in Ordnung ist in der Klasse. Dafür seien zwei, drei Jahre Berufspraxis nötig. Überhaupt sei die Klassenführung fast das Wichtigste: «Lehrerkarrieren scheitern nicht an der Fachdidaktik. Lehrerkarrieren scheitern an der Klassenführung.»
Darunter versteht er, als Lehr-person ein Gespür dafür zu entwickeln, wann etwas nicht in Ordnung ist in der Klasse. Dafür seien zwei, drei Jahre Berufspraxis nötig. Überhaupt sei die Klassenführung fast das Wichtigste: «Lehrerkarrieren scheitern nicht an der Fachdidaktik. Lehrerkarrieren scheitern an der Klassenführung.»
Mobbing ist ein Gruppenproblem
Mobbing,
ist sich die Forschung einig, betrifft nicht nur Opfer und Täter, sondern ist
ein Gruppenproblem. Jeder innerhalb der Gruppe hält eine Rolle inne. Es sind
deren sechs verschiedene. Auf der negativen Seite sind das – neben Opfer und
Täter – die «Assistenten» der Täter. Die, welche mitmachen, wenn der Haupttäter
mit dem Schikanieren angefangen hat. Der Begriff «Verstärker» bezeichnet jene,
welche zusehen, lachen und den Täter und seine Assistenten so in ihrem
Verhalten bestärken.
Auf der
positiven Seite gibt es die «Verteidiger». Das sind innerhalb einer Gruppe
jene, welche den anderen sagen, sie sollen aufhören, das Opfer nach einer
Attacke trösten oder ihm nahelegen, die Schikane dem Lehrer mitzuteilen. Und
dann gibt es noch die, welche möglichst nichts mit der Sache zu tun haben
wollen und sich abwenden oder weggehen, wenn sie Zeuge einer Schikane werden –
die sogenannten «Aussenstehenden».
Um
Mobbing zu unterbinden, muss der Prozess, der die ganze Gruppe betrifft, auch
in der Gruppe gelöst werden, sagt Wettstein. «Wenn nur der Täter bestraft wird,
kann dies oft Racheaktionen der Täter nach sich ziehen – und die Opfer
schweigen dann noch stärker», sagt Wettstein. Fachleute untersuchen deshalb,
wer bei Mobbing welche Rolle einnimmt, und sprechen die Probleme dann mit der
ganzen Klasse offen an. Sie erarbeiten mit der Klasse Regeln gegen Mobbing,
stärken bei allen Schülern die sozialen Fähigkeiten und eine aktive Haltung
gegen Mobbing.
Kommt in den Schulen an, was die Hochschulen
lehren?
Um als
Lehrperson richtig eingreifen zu können, muss ein Bewusstsein dafür bestehen,
wann man Hilfe braucht und wo diese zu finden ist. Schulsozialarbeiter,
Schulpsychologen, externe Mobbingexperten können helfen – aber insbesondere
auch eine Schulleitung, welche die Anliegen der Lehrer sowie auch
Mobbing-Anliegen generell ernst nimmt. Und da scheint es, zumindest gemäss
unseren Recherchen, schwer zu hapern: Während sämtliche Hochschulen rasch und
ausführlich auf die Frage nach der Mobbing-Thematik geantwortet haben, hat nach
einer ganzen Arbeitswoche nicht eine einzige der fünf angefragten Schulen in
Basel, Bern, Zürich, St. Gallen und Glarus auf unsere Anfrage geantwortet.
Leider
nützt die beste Lehrerausbildung nichts, wenn Schulleitungen inaktiv bleiben,
Hilfe verweigern oder die Mobbingvorfälle nicht ernst nehmen – und so nichts
weniger als das Leben und die zukünftige psychische Gesundheit einiger ihrer
Schüler riskieren.
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