Ökonom Fabrizio Zilibotti glaubt, die Gesellschaft sei viel kompetitiver geworden. Das erkläre, warum die Eltern in der Erziehung heute strenger sind.
"Der Druck auf die Eltern hat zugenommen", sagt der Professor für Entwicklungsökonomie, NZZaS, 16.2. von Patrick Imhasly
NZZ am Sonntag: Als ich aufwuchs, waren
meine Eltern ziemlich locker in Bezug auf meine Zukunft. Heute trimmen Eltern
ihren Nachwuchs auf Erfolg. Was ist geschehen?
Fabrizio
Zilibotti: Ich glaube nicht, dass sich heutige Eltern mehr um ihre Kinder
kümmern. Die gesellschaftlichen Anreize in der Erziehung haben sich verändert,
und der Druck auf die Eltern hat zugenommen. Als Sie und ich geboren
wurden, war die Gesellschaft als Ganzes entspannter. Mein Vater war Techniker
beim staatlichen Fernsehen in Italien, und er hatte bestenfalls die
Vorstellung, dass ich einmal im gleichen Betrieb arbeiten würde. Das Denken der
Menschen war eher horizontal angelegt.
Und heute?
Die
Gesellschaft ist viel kompetitiver geworden. Die Kosten, um im Leben
erfolgreich zu sein, sind gestiegen, und in vielen Ländern hat die soziale
Ungleichheit zugenommen. Die Antwort der Eltern besteht darin, dass sie mehr
Wert auf die Ausbildung legen. Sie denken heute vertikaler und haben klare
Vorstellungen, welche Schulen für die Zukunft ihrer Kinder gut sind.
Welche
Erziehungsstile haben Eltern entwickelt?
In der
Entwicklungspsychologie wird unterschieden zwischen einem autoritären, einem
permissiven und einem autoritativen Erziehungsstil. Bei der autoritären
Erziehung verlangen die Eltern Gehorsam von ihren Kindern und üben strikte
Kontrolle über sie aus. Permissive Eltern verfolgen eine Laissez-faire-Haltung
- sie lassen die Kinder ihre eigenen Entscheidungen treffen und fördern deren
Unabhängigkeit. Der autoritative Erziehungsstil liegt irgendwo dazwischen:
Autoritative Eltern versuchen ebenfalls, die Kinder in ihrem Sinne zu
beeinflussen, aber statt durch Befehle und Disziplin tun sie das, indem sie
argumentieren.
Zu etwa der
gleichen Zeit passierten zwei Entwicklungen: Es kam zu einer kulturellen
Transformation - die Menschen handelten zunehmend individualistisch, was sich
auch in der Erziehung niederschlug. Und es stellten sich ökonomische
Veränderungen ein. Bis in die 1970er Jahre nahm die Ungleichheit beim Einkommen
zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten ab. Doch Ende der 1970er setzte
die IT-Revolution ein, und die Mobilität in der Arbeitswelt nahm zu. Hinzu
kamen vielerorts politische Bestrebungen, die Rolle des Wohlfahrtsstaats
einzuschränken. In der Folge stieg die ökonomische Ungleichheit stark an.
Dadurch änderten sich für die Eltern die Anreize in der Erziehung ihrer Kinder.
Was
bedeuteten die veränderten ökonomischen Umstände für die Eltern?
Auf einmal
gab es in der Gesellschaft mehr Aufstiegsmöglichkeiten, allerdings nahmen auch die
Risiken eines Absturzes zu. Wer gut ausgebildet war, konnte zum Beispiel als
Ingenieur Karriere machen. Die Kehrseite zeigt sich bei Schulabbrechern. Wer in
den 1960er Jahren aus der Mittelschule flog, wurde Arbeiter und stand
ökonomisch nicht viel weniger gut da als jemand mit einer höheren Bildung.
Heute führt ein Schulabbruch in vielen Ländern dazu, dass die Betroffenen einen
unsicheren und schlecht bezahlten Job im Dienstleistungssektor annehmen müssen
und sozial marginalisiert werden. Die Schweiz bildet hier eine löbliche
Ausnahme: Mit dem dualen Bildungssystem ist man sehr bemüht, jedem die
Möglichkeiten zu bieten, mit denen er seine Fähigkeiten möglichst gut entfalten
kann.
Erziehung
ist doch auch eine Frage der Tradition - wir vermitteln unseren Kindern jene
Werte, von den wir selbst überzeugt sind.
Selbstverständlich
können wirtschaftliche Anreize nicht alles erklären, aber Wirtschaft auf der
einen Seite und Tradition und Kultur auf der anderen Seite entwickeln sich in
einer Art Koevolution. Wenn Eltern in China ihre Kinder sehr streng erziehen,
dann kann das nicht allein mit dem Konfuzianismus erklärt werden. Entscheidend
dafür ist auch die grosse soziale Ungleichheit in dem Land.
Manche
Biologen sagen, das grösste Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen könnten,
seien gute Gene.
Gute Gene zu
haben, ist nützlich. Aber aus Studien weiss man, dass bei Kindern aus armen
Familien mit Fördermassnahmen viel erreicht werden kann. Über die Zeit
verbessern sie insbesondere nichtkognitive Eigenschaften wie Geduld und
Arbeitshaltung. Den Einfluss der Gene und jenen der Umwelt auseinanderhalten zu
wollen, ist naiv - beide sind für die Entwicklung der Kinder wichtig.
Wie
unterscheiden sich die Erziehungsstile in verschiedenen Ländern?
In meiner
Forscherkarriere habe ich in mehreren Ländern gelebt: in Italien, Spanien,
England, Schweden, der Schweiz und jetzt in den USA. Die Unterschiede im
Erziehungsstil sind erstaunlich gross. In Schweden sind die Eltern gegenüber
ihren Kindern extrem locker. Kommt man aus einer lateinischen Kultur wie ich,
könnte man fast den Eindruck haben, dass die Interessen der Kinder zu sehr im
Zentrum stehen.
Wir würden
Sie den typisch schweizerischen Erziehungsstil beschreiben?
Er ist eine
Art Mittelding: nicht so permissiv wie in den nördlichen Ländern Europas, aber
nachsichtiger als in Italien, Frankreich oder Spanien. Die Eltern sind besorgt
um die Zukunft ihrer Kinder, aber nicht dermassen besessen und auf Erfolg
fixiert wie zum Beispiel in den USA.
Wie
erklären Sie diese Unterschiede?
Auch dafür
sind die soziale Ungleichheit und die damit verbundenen ökonomischen Anreize
verantwortlich: Ist der Graben zwischen Arm und Reich in einer Gesellschaft
gross, steht in der Erziehung viel auf dem Spiel - Eltern sind dann besonders
streng mit ihren Kindern. Hinzu kommen Unterschiede im Schulsystem. Ist der
Zugang zur Schule frei und unterscheiden sich die Schulen in ihrer Qualität
nicht allzu sehr, wie das insbesondere in Finnland, aber auch in der Schweiz
der Fall ist, sind die Eltern entspannter gegenüber ihren Kindern. In den USA
ist das völlig anders: Für die berufliche Karriere der Kinder ist nicht nur
entscheidend, welche Schulen sie besucht haben, sondern auch, welche
ausserschulische Aktivitäten sie belegen können, sei das Musik-, oder
Sportunterricht. Das erzeugt grossen Druck - auf die Kinder wie auf die Eltern.
In welchem
Land haben Sie mit Ihrer Familie die besten Erfahrungen gemacht?
In Schweden
hat unsere Tochter Nora den Kindergarten besucht. Als wir sie am Abend
abholten, wollte sie oft noch länger bleiben - so wohl fühlte sie sich. Später
in der Schweiz habe ich die Professionalität und das eher akademische
Verständnis des Bildungswesens bewundert - etwa die Bemühung, den Schülern in
Mathematik solide Grundlagen zu vermitteln. In Schweden wird mehr Wert auf
soziale Interaktionen gelegt und die Schule ihrer eigenen Dynamik überlassen,
was uns als Eltern bisweilen Sorgen bereitet hat. Aber der wirtschaftliche
Erfolg beider Länder zeigt: Beide Systeme bringen junge Menschen hervor, die im
Leben sehr gut bestehen können.
Der Einfluss der Eltern
·
1 Stunde mehr pro Tag wenden Eltern in den
Niederlanden heute für ihre Kinder auf als im Jahr 1975, in den USA sogar gegen
2 Stunden.
·
563 Punkte erzielten von den
Eltern intensiv betreute südkoreanische Kinder im Pisa-Mathematiktest 2012,
wenig betreute Kinder kamen auf 540.
·
2017: So lange war in Frankreich die körperliche
Bestrafung von Kindern zu Hause legal. In 19 US-Bundesstaaten ist sie in der
Schule heute noch zulässig.
Ein Land
widerlegt ihre Theorie: In Frankreich ist die soziale Ungleichheit im
weltweiten Vergleich klein, trotzdem herrscht dort ein fast autoritärer
Erziehungsstil: Weshalb?
Länder mit
einer katholischen Tradition wie Frankreich neigen eher zu einem autoritären
Erziehungsstil. Hinzu kommt, dass das Schulsystem in Frankreich hierarchisch
organisiert ist: Statt dass man Teamwork fördert, werden Schüler darauf
getrimmt, das zu tun, was ihnen die Lehrer vorgeben. Und an die guten
Hochschulen, insbesondere an die «grandes écoles» - die Ausbildungsstätten für
die Führungselite in Staat, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur -
schafft es nur, wer ausserordentlich viel leistet. Das mag auch erklären, warum
die körperliche Bestrafung von Kindern in Frankreich bis heute verbreitet ist.
Wie gross
sind die Unterschiede von Erziehungsstilen innerhalb einer Gesellschaft?
Auch hier ist
das Muster ähnlich: Gut ausgebildete und wohlhabende Eltern pflegen einen eher
autoritativen, bisweilen permissiven Erziehungsstil. Arme Eltern neigen
demgegenüber stärker zu einem autoritären Erziehungsstil. Was sich in Studien
klar zeigt: Kinder sind heute viel stärker sozialen Unterschieden ausgesetzt
als früher. Fast überall sind die Wohngegenden sozial segregiert, und Kinder,
die in einem förderlichen Umfeld aufwachsen, haben auch eine Familie, die sich
um sie kümmert. Mit andern Worten: Die Verhältnisse in der Familie reflektieren
das soziale Umfeld.
War das
früher anders?
Ich bin in
Italien in einer Gegend aufgewachsen, wo die untere Mittelklasse, aber auch
besser verdienende Menschen wohnten, jetzt lebt dort nur doch die Unterschicht.
In Zeiten, in denen der Wettbewerb um gute Aussichten für die Kinder so gross
ist wie heute, können ärmere Eltern kaum mehr mithalten. Der Graben zwischen
den Eltern wird immer grösser, und er könnte bald einmal zur Falle werden.
Nämlich dann, wenn die Eltern in benachteiligten Verhältnissen einfach
aufgeben. In den Städten der USA hat die soziale Ungleichheit inzwischen
schockierende Ausmasse angenommen.
Wie sieht
die Zukunft aus - müssen die Eltern noch mehr investieren, damit ihre Kinder
ein erfülltes und erfolgreiches Leben haben können?
Immer mehr
traditionelle Jobs werden von Maschinen übernommen - diese Entwicklung wird
weitergehen und zunehmend Menschen in den Dienstleistungssektor drängen. Aber
auch dort nimmt die Mechanisierung zu, wie das Beispiel der
Self-Scanning-Kassen in Einkaufsläden zeigt. Statt sich von den Maschinen
verdrängen zu lassen, sollten die Menschen zu einem Glied in der Konstruktion
von Maschinen werden. Das bedeutet tatsächlich noch mehr Investitionen in die
eigenen Fähigkeiten. Aber man darf das nicht als Konkurrenzkampf begreifen:
Nicht jeder kann der Erste sein. Familien kommen nicht darum herum, die Talente
ihrer Kinder möglichst gut zu entwickeln. Es braucht aber auch ein
Bildungssystem, das jene Fähigkeiten vermittelt, die künftig stärker gefragt
sind.
Erziehung zahlt sich
aus
Ob in China, in den USA, in Schweden oder in der Schweiz: Eltern
wollen stets das Beste für ihre Kinder. Mit welchen Erziehungsmethoden sie
dieses Ziel am ehesten erreichen können, hängt indessen nicht nur von ihnen
oder dem Einfluss von Jugendpsychologen oder Lehrern ab, sondern auch von den
ökonomischen Umständen, in denen sie leben.
Das ist die zentrale These des neuen, erst auf Englisch
erschienenen Buchs
«Love, Money & Parenting» der beiden renommierten Ökonomen
Matthias Doepke und Fabrizio Zilibotti. Doepke stammt aus Deutschland,
Zilibotti aus Italien, beide lehren heute als Professoren an amerikanischen
Elitehochschulen.
«Statt den Eltern Ratschläge zu erteilen, versuchen wir die
Motivation zu verstehen, die ihrem Handeln zugrunde liegt», schreiben die
beiden Wirtschaftswissenschafter.
Und da zeigt sich immer wieder dasselbe Muster – in der jüngsten
Geschichte, im Vergleich verschiedener Nationen und sogar innerhalb der
Gesellschaften: Je grösser die ökonomischen Unterschiede sind, desto mehr
können die Eltern in der Erziehung und durch die Bildung ihrer Kinder gewinnen
bzw. verlieren. Und je mehr auf dem Spiel steht, desto stärker sehen sich die
Eltern bemüssigt, aktiv und manchmal sogar mit Härte in das Lebensschicksal
ihrer Kinder einzugreifen.
Luzide, anschaulich und auch für Nichtökonomen stets
verständlich erklären Doepke und Zilibotti, warum sich die Erziehungsmethoden
der ängstlichen «Helikoptereltern» und der unerbittlichen «Tiger Moms» in der
jüngsten Zeit nicht nur in den USA ausgebreitet haben. Sie gehen zurück in die
Geschichte und legen dar, dass die Eltern vor hundert Jahren ähnlichen Zwängen
ausgesetzt waren wie heute.
Man erfährt aber auch, wie die Industrialisierung die
Geschlechterrollen zunächst zementierte, indem sie die Frauen zum Rückzug in
den Haushalt zwang. Erst später relativierten Maschinen den physischen Vorteil
der Männer. Kognitive und soziale Fähigkeiten gewannen an Ansehen, wodurch für
Eltern «Investitionen» in ihre Töchter lohnenswerter wurden.
Eindrücklich warnen die Autoren davor, heute den Graben zwischen
den Möglichkeiten reicher und armer Eltern noch grösser werden zu lassen, wozu
es ihrer Meinung nach auch staatliche Interventionen braucht.
Doepkes und Zilibottis Buch wird akademischen Standards gerecht,
ist aber in erster Linie ein sehr persönliches Werk. Das hat damit zu tun, dass
die beiden offenherzig von den Erfahrungen berichten, die sie in ihrer eigenen
Jugend sowie mit ihren Familien bei der Forschungsarbeit in Europa, China und
den USA gemacht haben. (pim.)
Der italienische
Wirtschaftswissenschafter ist Professor für Entwicklungsökonomie an der Yale
University. Zilibotti untersucht weltweit, wie sich soziale Ungleichheit auf
den Erziehungsstil auswirkt. Bis 2017 war er Professor für Makroökonomie und
politische Ökonomie an der Universität Zürich. (pim.)
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