Wenn wir von geschichtlichen Ereignissen,
etwa vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges, hören oder lesen, mag sich uns die
Frage aufdrängen, ob es in einer Zeit, die uns mit ihren eigenen Problemen
schon voll in Anspruch nimmt, überhaupt noch angebracht sei, sich mit der
Vergangenheit zu befassen. Die vielgehörte Antwort, es sei eben interessant zu
wissen, was sich in früheren Zeiten zugetragen habe, kann uns nicht
befriedigen; denn Interessantes finden wir in der Tagespresse und der
Tagespolitik mehr als genug.
Geschichte ist wichtiger denn je. Aargauer Zeitung, 11.2. von Mario Andreotti
Auch die Begründung, die Probleme unserer Gegenwart
könnten wir nur dann richtig verstehen, wenn wir ihre Entwicklung durch die
Jahrhunderte bis in ihre Ursprünge zurückverfolgten, reicht allein nicht aus,
uns von der Notwendigkeit einer tieferen geschichtlichen Besinnung zu
überzeugen. Es muss Weiteres dazukommen.
Unsere menschliche Existenz in ihrer
Geschichtlichkeit begreifen
Bei der Beschäftigung mit der Geschichte geht es
nicht einfach darum, aus der Vergangenheit die Gegenwart zu verstehen und
Rezepte für die Zukunft zu erhalten, sondern vielmehr um die Möglichkeit,
unsere eigene menschliche Existenz in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen.
Jeder von uns ist in eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Kultur und in eine
bestimmte Gesellschaft hineingeboren. Dieses Erbe fordert unausweichlich zu
einer Auseinandersetzung, zu Annahme oder Ablehnung auf, die jeder Mensch
bewusst oder unbewusst im Leben und Handeln vollzieht. Dabei wird der Einzelne
bestimmt von den Menschen früherer Generationen wie auch von den eigenen
Zeitgenossen und wirkt seinerseits durch seine Taten, aber auch durch seine
Tatenlosigkeit mit am Glück oder Unglück derer, die mit ihm und nach ihm leben.
So hält die Geschichte letztlich Antworten auf die eine grosse Frage bereit:
Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind?
Wer mit den Menschen früherer Zeiten in lebendiger
Anteilnahme geplant und gehandelt, vielleicht auch geirrt, gelitten und umgedacht
hat, wird umso fähiger sein, zu den Fragen seiner eigenen Zeit sachlich
Stellung zu nehmen. Das setzt freilich eine eingehende Kenntnis wichtiger
geschichtlicher Prozesse, wie zum Beispiel die Entstehung der Menschenrechte in
der Aufklärung oder des «Kalten Krieges» nach dem Zweiten Weltkrieg, voraus.
Doch solche geschichtlichen Kenntnisse, vor allem die grundlegende Tatsache,
dass die Kenntnis der Vergangenheit Teil unserer Kultur ist, scheinen in der
heutigen Generation mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten.
In einigen Kantonen gibt es nur noch eine
Wochenlektion
Dies dürfte vor allem zwei Gründe haben: Zum einen
hat der Geschichtsunterricht in unseren Schulen, vor allem, seit mit dem
Lehrplan 21 neue Fächer wie die Frühfremdsprachen und «Medien und Informatik»
den Vorrang erhalten haben und seit bei den grossen Evaluationen wie PISA
Geschichte inexistent ist, eine gewaltige Abwertung erfahren. In einigen
Kantonen wird gerade noch eine Wochenlektion für Geschichte gewährt.
Dazu kommt, dass Geschichte als eigenständisches
Fach in der Volksschule verschwunden ist und durch das schwammige Sammelfach
«Räume, Zeiten, Gesellschaften», das alles Mögliche an Realien umfasst, ersetzt
wurde. Jeder Lehrperson ist es nun, je nach Vorlieben, im Grunde überlassen, ob
sie die ein bis zwei Wochenlektionen jeweils für historische, gesellschaftliche
oder politische Themen verwenden will. Kein Wunder, dass das Fach Geschichte an
unseren Universitäten heute nur noch von knapp drei Prozent aller Studierenden
gewählt wird.
Und zum andern ist unserer Generation
geschichtliches Denken, die Einsicht, dass es immer Menschen mit historischem
Bewusstsein waren, die Neues geschaffen und die Gesellschaft vorangebracht
haben, weitgehend abhandengekommen. Die Gründung der Vereinten Nationen oder
der Europäischen Union, die Wiedervereinigung Deutschlands und das weitgehend
friedliche Ende der Sowjetunion waren Leistungen, die aus einem übergeordneten
Verständnis der Geschichte hervorgingen und ohne es nicht erklärbar sind. Eine solche
Sicht auf das Vergangene ist eine unabdingbare Voraussetzung für richtiges
Handeln im Heute.
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