Er wird vielen in klarer
Erinnerung bleiben: scharfe Gesichtszüge, eher klein, schlagfertig,
sarkastisch, gelegentlich mit Schalk in Augen- und Mundwinkel, ein guter
Zuhörer, dank genauer Dossierkenntnis höchst präsent, unerschrocken, verfemt,
kontrollierend und kontrolliert, Brissago rauchend, unabhängiger, als in
späteren Jahren seinem Landesring der Unabhängigen lieb war. Alfred Gilgen war
volle 24 Jahre, von 1971 bis 1995, Zürcher Regierungsrat und Chef der Erziehungsdirektion.
In die sechs Amtsperioden fielen eine starke Expansion vor allem der
Mittelschulen und der Universität, etliche Reformen, zwei wirtschaftliche
Krisen mit Sparzwängen und -diskussionen als Folge, aber auch Wechsel der
politischen und der bildungspolitischen Konjunktur von der «68er»-Welle über
eine Phase der Ernüchterung bis zur aufkommenden Kritik an sozialstaatlichen
Mustern.
Alfred Gilgens Image wurde stark durch seine ersten Jahre in der
Regierung geprägt, die markant begonnen hatten: Wenige Tage nach der – wegen
militärischer Pflichten verschobenen – Amtsübernahme liess er im Einvernehmen
mit dem Rektor die zentralen Universitätsgebäude vorübergehend schliessen, die
eine Gruppe von Studierenden ohne deklarierte Verantwortliche mit einer «antikapitalistischen
und antifaschistischen Informationswoche» zunehmend in Beschlag genommen hatte.
Alfred Gilgen anlässlich des Schweizer Schulsporttags im Juni 1995, Bild: Keystone
Ein Politiker mit Prinzipien und Humor, NZZ, 14.2. von ChristophWehrli
Konflikten nie ausgewichen
Die Rolle des starken Ordnungshüters im Bildungswesen hatte sich
nur teilweise abgezeichnet. Alfred Gilgen, 1930 geboren, Stadtzürcher aus eher
bescheidenen Verhältnissen, studierte Medizin und leitete nach einem
Amerika-Jahr ab 1962 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem ETH-Institut
die Arbeitsgruppe für Umwelthygiene. Gesundheitspolitische Fragen bildeten auch
den Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Kantonsrat ab 1959. Die Erziehungsdirektion
fiel dem 1971 neugewählten Regierungsmitglied zu, da deren bisheriger Chef,
Walter König, der gleichen Partei angehörig, zurückgetreten war und der
Gesundheitsdirektor das Ressort nicht zu wechseln wünschte.
Dem Landesring war Gilgen beigetreten, weil er dort, wie
verschiedene andere Persönlichkeiten auch, ausserhalb traditioneller
politischer Milieus und Ideologien Freiraum erwarten konnte. Aber auch seine
Grundhaltung, das Eintreten für Leistung und zugleich für soziale
Verantwortung, passte dort hinein. Die von Gottlieb Duttweiler gegründete
Partei erreichte in den modernisierungsfreudigen 1960er Jahren ihren Höhepunkt,
hatte 1971 im Zürcher Kantonsrat immerhin noch 27 Sitze, schrumpfte dann aber
kontinuierlich bis zur Auflösung 1999. Ein zuletzt forcierter grüner Anstrich
beschleunigte die Entfremdung zwischen der Partei und ihrem Regierungsrat, und
nachdem sie 1991 einen anderen Kandidaten aufgestellt hatte, trat Gilgen aus.
Er wurde stets ohne Allianz, wenn auch meistens auf dem letzten Platz, gewählt.
– Noch ein weiterer Faktor bestimmte offenkundig die Haltung des Politikers:
die Armee, in der er bis zum Generalstabsobersten aufstieg. Sein ziviler
Führungsstil wurde zwar als modern und kooperativ bezeichnet, doch nicht
zuletzt der «Dienstweg» war ihm auch im Bildungswesen wichtig, und im
Wahrnehmen seiner Verantwortung war er konsequent.
Was von «Achtundsechzigern» als Repressionskampagne hingestellt
wurde, verstand Gilgen als Verhinderung der politischen Instrumentalisierung
staatlicher Bildungseinrichtungen. Er schritt ein, wenn sich Ansätze zu einer
«Gegenuniversität» zeigten und als nach dem Opernhauskrawall 1980 Ethnologen
mit Videoaufnahmen die Stimmung anheizten. Er wollte niemanden als Lehrkraft
anstellen, der eine Umgestaltung des Staats mit illegalen Mitteln im Sinn
hatte, und dies galt auch für «politische» Militärdienstverweigerer. Ob diese
an sich verständlichen Grundsätze genügend transparent und mit Augenmass
angewandt würden, war schon damals fraglich. Dem Erziehungsdirektor selber sind
eher wenige Fälle zuzurechnen. Doch von betroffenen Kreisen propagandistisch
hochgespielt trugen sie zu einem Feindbild bei, das für gespannte Verhältnisse
und übertriebenes Misstrauen sorgte.
Für Gilgen kam es nicht infrage, wenigstens aus
Opportunitätsgründen die kleinsten Fische durchs Netz zu lassen oder wegen der
Sonderstellung der Kultur bei der Zusprache kantonaler Auszeichnungen an
politisch engagierte Filmemacher und Autoren Versöhnlichkeit und Toleranz zu
demonstrieren. Er versuchte aber auch kaum je, in populistischer Weise, mit
pauschaler Polemik, Kapital aus solchen Auseinandersetzungen oder
Konfrontationen zu schlagen, von denen er natürlich beteuerte, er habe sie nie
gesucht, weiche ihnen indessen nie aus. Wenn ihm ein parlamentarischer Vorstoss
unnötig zu sein schien, stellte er sich ohne taktische Rücksichten dagegen, zum
Beispiel weil ein weiterer Altersbericht nichts anderes wäre, «als dass man aus
Sekundärliteratur jetzt Tertiärliteratur herstellt».
Gerade auch angesichts der Kritik an seinen «repressiven»
Massnahmen verwies Gilgen immer wieder auf den Rückhalt, den es für die
kostspielige Universität im Kantonsrat und im Volk zu sichern gelte. Dass er
die Dinge generell im Griff hatte, sich beispielsweise auch intensiv und
kritisch mit Berufungsgeschäften befasste, dürfte der Universität letztlich
zugutegekommen sein. Die Zahl der Professoren wurde, gesamthaft ungefähr
entsprechend der Zahl der Studenten, verdoppelt, und es wurden mehrere
bedeutende Neubauten realisiert. In einem Nichteintretensentscheid des
Kantonsrats endete hingegen 1976 der erste Versuch, ein Universitätsgesetz zu
schaffen. Der aus langen Vorarbeiten und Diskussionen hervorgegangene Entwurf,
der unter anderem einen Universitätsrat und erhebliche Mitbestimmungsrechte von
Studierenden und anderen Gruppen vorsah, stiess rechts und links auf
Widerstand. So blieben kleinere Schritte, speziell die Stärkung des Rektorats.
Gegen Ende seiner Amtszeit liess Gilgen Vorarbeiten zu einer neuen Reform zu,
die dann das Ende der weitgehend direkt von der Erziehungsdirektion geführten
Universität bedeuten sollte.
Andere Erneuerungsbestrebungen kamen ohne solche Rückschläge, wenn
auch nicht immer rasch ans Ziel. Die Lehrerschaft als Ganzes erwies sich als
«eher konservatives Gremium – vielleicht mit Ausnahme der «Aaleggi». Der
Französischunterricht an der Primarschule wurde gegen ihre Meinung eingeführt.
Der Realisierung der individualisierten und durchlässigeren Volksschul-Oberstufe
gingen rund zwanzigjährige Versuche und Abklärungen voraus. Schon 1978 gelang
ein grundsätzlicher Um- und Ausbau der Lehrerbildung, deren zweistufiger
pädagogischer Teil nun auf der Maturität aufbaute. Anfang der neunziger Jahre
brachte ein neuer Lehrplan eine stärkere Orientierung nach Lernzielen statt nur
nach Stoffen. Schritt um Schritt wurde das Netz der Mittelschulen in mehreren
Regionen des Kantons verdichtet, auch durch das unkonventionelle Liceo
artistico.
Er liess sich nicht verbittern
Da und dort vermisste man bei Gilgen explizite bildungspolitische
Ziele grundsätzlicher Art. Ob «Visionen» die Entwicklungen erleichtert hätten?
Gilgen war jedenfalls skeptisch gegenüber hochtrabenden Philosophien und sah
seine eigene Stärke eher in angriffig-witzigen als in programmatischen Reden.
Souverän waren seine Voten im Kantonsrat, wenn er allseitige Angriffe parierte.
Verlegte er sich zu sehr auf Abwehr? («Wenn einer am Ertrinken ist, lernt er
nicht noch einen neuen Schwumm», sagte er über Reformen in Sparzeiten.) Man
könnte seine realistische, sachliche und emotional distanzierte Art auch als
Chance für Praktiker, die ihren Spielraum produktiv nutzen, betrachten.
Beeindruckend bleibt Alfred Gilgen gewiss als beharrlich arbeitender
Regierungsmann, der sich auch durch niederträchtige und unappetitliche Angriffe
weder beeinflussen noch wirklich verbittern liess («Es ist noch nie einer gegen
seinen Willen Regierungsrat geworden»). 300 Franken liess er sich einmal eine
Langhaar-Perücke kosten, um darunter seine Charakterglatze zu verstecken und
sich unter die Teilnehmer einer Demonstration gegen sich selber zu mischen.
Sein Amt hat er aber auf seine Art respektgebietend ernst genommen.
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