Unser Land streitet leidenschaftlich gern über seine Sprachen.
Schliesslich geht es um den nationalen Zusammenhalt. Doch bei genauerem
Hinsehen erweist sich ebendieses vielbemühte Argument als ziemlich leere Hülse.
Mythos mehrsprachige Schweiz, NZZ, 21.9. von Robin Schwarzenbach
Im Frühling 2017, so scheint es, ist die Schweiz nur knapp einem
Desaster entgangen. Nicht nur, dass sich die Thurgauer Regierung erfrechte, den
Französischunterricht auf die Sekundarstufe verschieben zu wollen. Im Kanton
Zürich gelangte doch tatsächlich ein Volksbegehren zur Abstimmung, das
ebenfalls zersetzende Folgen zu haben drohte. Seine Forderung: nur noch eine
Fremdsprache in der Primarschule. Ob damit Französisch oder Englisch gemeint
wäre, liessen die Initianten zwar offen. Doch im Dunstkreis einer hitzigen
Debatte führte dieses Ansinnen erst recht zu Ängsten. In der Romandie geisterte
der unschöne Begriff einer drohenden «guerre des langues» durch die Gazetten,
in der «Weltwoche» beklagte der Genfer Regierungsrat Antonio Hodgers gar eine
«Verletzung der nationalen Einheit». Und auch die Zürcher Exekutive befürchtete
das Schlimmste: Im Abstimmungskampf wies sie präventiv darauf hin, dass man bei
einem Ja mit Französisch beginnen und Englisch in die Oberstufe versetzen
werde.
Leben wir das Ideal?
Der Rest der Geschichte ist bekannt: Die Zürcher Initiative wurde mit
über 60 Prozent Nein-Stimmen bachab geschickt, das Thurgauer Kantonsparlament
brachte das Vorhaben der Regierung in zweiter Lesung doch noch zu Fall, ein
nationaler Konflikt konnte gerade noch vermieden werden.
Die Schweiz darf also aufatmen und sich weiter rühmen, ein Land
verschiedener Sprachen und Kulturen zu sein. Multilinguisme war und ist ein
Vorteil, wie noch zu lesen sein wird in diesem Text. Grundsätzliche Fragen
jedoch stellen sich trotzdem: Sind wir wirklich so mehrsprachig, wie wir zu
sein meinen? Leben wir dieses Ideal? Oder mit anderen Worten: Interessieren wir
uns überhaupt füreinander – über die Sprachgrenzen hinweg?
In der Deutschschweiz zumindest scheint es mit diesem von Politikern und
Intellektuellen gerne beschworenen Überbau nicht weit her zu sein. Lavaux,
Léman, Genève – all das ist weit weg: Knapp die Hälfte der Deutschschweizer
lebt offenbar gut damit, den Röstigraben weniger als einmal im Jahr zu
überschreiten, wie Daten des Forschungsinstituts des Politgeografen Michael
Hermann belegen. 14 Prozent waren gar noch nie im Welschland. Je weiter weg von
der Sprachgrenze, desto indifferenter die Bevölkerung. Im Kanton Zürich liegt
der Anteil der Romandie-Muffel (noch nie oder seltener als einmal jährlich
drüben) bei 68 Prozent, den «Spitzenwert» mit 83 Prozent verzeichnet der
Thurgau, ausgerechnet.
Ganz anders unsere Compatriotes: Sie besuchen uns deutlich öfter als wir
sie. Dieses Ungleichgewicht dürfte einen Teil der Aufregung im Frühling erklären,
als der grössere Landesteil (beziehungsweise dessen wichtigste Region) drauf
und dran zu sein schien, dem kleineren die kalte Schulter zu zeigen – wo sich
die Welschen doch seit Jahren um ein gutes Zusammenleben mit den Suisses
allemands bemühen! Deutschunterricht steht in der Romandie nicht infrage.
Das ist ehrenwert. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass
Französisch unter Deutschschweizer Schülerinnen und Schülern einen derart
schweren Stand hat, dass – auch hier – von einer «mehrsprachigen Schweiz» nicht
viel zu spüren ist, ja nicht viel zu spüren sein kann. Unser Land besser
verstehen? Mit dieser Frage konnten die wenigsten Jugendlichen etwas anfangen,
als sie für eine Studie des Genfer Sprachökonomen François Grin befragt wurden.
Über 80 Prozent gaben an, dass ihnen ihr Französischunterricht dabei eher nicht
oder überhaupt nicht geholfen habe.
Wie sollte er auch? Lust, ihr Französisch zu verbessern, verspürt nur
eine Minderheit der Befragten. Englisch hingegen steht viel besser da, sowohl
was das Weiterlernen nach der Schulzeit als auch was das Interesse für
englischsprachige Länder angeht (siehe Grafik). Dieselben Prioritäten zeigen
sich auch bei der zweisprachigen Matur, bei der gewisse Fächer in einer
Fremdsprache unterrichtet werden. Zum Beispiel in Zürich: Sechzehn
Kantonsschulen setzen hier auf Englisch, nur zwei bieten deutsch-französische
Lehrgänge an.
Ein Rezept für die Geschichte
Sicher, es gibt Gymnasiasten und (vor allem) Gymnasiastinnen, die den
anderen Landesteil entdecken wollen und dafür einen mehrmonatigen
Sprachaufenthalt absolvieren. Doch die
Mehrheit der Deutschschweizer Jugendlichen se foutent de la Suisse romande et
du français, langue qui devrait pourtant faire de nous «de braves Suisses». Grin hält das für
eine besorgniserregende Entwicklung. Immer wieder kommt der Professor der
Universität Genf auf die Schweiz als gemeinsames politisches Projekt zu
sprechen, dem die Mehrsprachigkeit seit der Gründung des Bundesstaates 1848 gut
gedient habe. Die nationale Politik, sagt Grin, sei sich dieser Leitidee sehr
wohl bewusst – schliesslich liege hier ein wesentlicher Grund für den Wohlstand
unseres Landes begründet.
Man denkt an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, an den Ersten
Weltkrieg, an Nationalsozialismus, geistige Landesverteidigung und den Zweiten
Weltkrieg, als Nationen einer Sprache geboren und Vielvölkerstaaten zu Grabe
getragen wurden, und «deutsches» Überlegenheitsdenken, die die Schweiz zu dem
gemacht haben, was sie heute ist: ein prosperierendes Land verschiedener
Sprachregionen mitten in Europa. Dass es die Geschichte gut gemeint hat mit
uns, ist unbestritten. Doch ob mit den Schicksalsjahren des 19. und 20.
Jahrhunderts heute noch ein Blumentopf zu gewinnen ist, scheint zweifelhaft –
gerade wenn es darum geht, den Mehrwert einer mehrsprachigen Schweiz zu
kultivieren. Das nationale Zeitalter, das auf verbindende Ideale zwischen den
Sprachregionen geradezu angewiesen war, ist vorbei. Lokalpolitiker
nationalkonservativer Parteien, die mit dieser These nicht einverstanden sind,
dürfen gerne mit gutem Beispiel vorangehen und ihre nächste Rede am 1. August
auf Französisch halten.
Wären sie keine guten Schweizer, wenn sie es nicht könnten? Ein absurder
Gedanke. Nicht weniger abwegig klingt es indes, wenn Verfechter des Multilinguisme
auf die Arbeitswelt verweisen, um ihren Argumenten für eine mehrsprachige
Schweiz zusätzlich Gewicht zu verleihen. Französisch- beziehungsweise
Deutschkenntnisse sind erwiesenermassen ein Vorteil: Über drei Viertel der
Deutschschweizer Firmen verfügen nach eigenen Angaben über zu wenig
Mitarbeiter, die ausreichend Französisch sprechen; in mehr als der Hälfte der
Unternehmen in der Westschweiz fehlt Personal mit soliden Deutschkenntnissen,
wie eine weitere Studie von François Grin zeigt. Nur: Lernen wir der Schweiz
zuliebe Französisch oder vielmehr, um unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu
verbessern?
Überhaupt scheinen Schweizerinnen und Schweizer ein eher nüchternes
Verhältnis zu ihrem Land zu haben. Im sogenannten Identitätsbarometer der Credit
Suisse figurieren die Eigenschaften Sicherheit, Frieden und Neutralität ganz
zuoberst, Kulturvielfalt als Merkmal der Schweiz folgt erst an 18. Stelle, noch
hinter Schokolade. Sprachen sind in dieser Studie überhaupt nicht aufgeführt –
ein weiteres Indiz dafür, dass der nationale Mythos der Mehrsprachigkeit seine
besten Zeiten hinter sich hat.
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