Mädchen
sind dem gängigen Sprachunterricht deutlich mehr zugetan. Kann unser
Schulsystem nicht alle befähigen?
Vernachlässigte Knaben, NZZ, 21.9. von Natalie Avanzino
Politiker klagen, an Schweizer Gymnasien habe es zu viele Mädchen – und
dass deshalb zu wenig junge Männer an die Hochschulen gingen. Bei den Knaben
betrug die Maturandenquote 2016 schweizweit 16 Prozent, bei den Mädchen
hingegen machten 24 Prozent die Matur. Schuld daran sei unser Schulsystem,
welches zu sprachlastig und somit zu sehr auf das weibliche Geschlecht
zugeschnitten sei, heisst es häufig. Doch sind Knaben in Sprachfächern tatsächlich
schwächer als ihre Mitschülerinnen? Oder werden sie nicht richtig abgeholt? Wie
kann man sie begeistern?
Männliche Vorbilder gefragt
Dass Mädchen seit Jahren in der Bildungsstatistik obenauf schwingen, hat
den Vorstand der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
auf den Plan gerufen. Im Frühling lancierte dieser die Idee, Informatik als
obligatorisches Fach in der Mittelschule einzuführen. Bis anhin wird es
lediglich als Ergänzungsfach angeboten. Ende Oktober wird nun der
Rahmenlehrplan Informatik erlassen, der die Grundlage für die kantonalen
Lehrpläne darstellt. Die Intention ist, mehr männlichen Nachwuchs für die
Gymnasien zu rekrutieren.
Den Knaben also die Informatik, den Mädchen weiterhin die Sprachen?
Andrea Bertschi sieht zusätzlichen Handlungsbedarf. Die Professorin für
Leseforschung, deutsche Literatur und Didaktik an der Pädagogischen Hochschule
der Fachhochschule Nordwestschweiz und Privatdozentin an der Universität Basel
wünscht sich eine Bildungsoffensive, die Lesen und Schreiben intensiver
fördert. Gleichzeitig will sie aber das Interessenspektrum der Knaben besser
integriert haben – so sollen Schulbücher sowie Lese- und Schreibaufgaben
generell für alle etwas bieten, «ohne alte Rollenbilder zu verstärken».
In den Unterrichtsmaterialien finde man kaum Sachthemen, genau damit
könnten Lehrpersonen aber einen Grossteil der Knaben erreichen, ist Bertschi
überzeugt. Sie konstatiert: «Lesen ist nach wie vor weiblich konnotiert. Knaben
definieren ihre Stärke über Mathematik oder sportliche Erfolge.» Auch seien
männliche Vorbilder noch immer selten, sowohl bei den Lehrpersonen als auch in
der Gesellschaft insgesamt. Anregungen aus dem familiären Umfeld und dem
Freundeskreis seien jedoch äusserst relevant. «Es wirkt anders, wenn Väter mit
ihren Söhnen die Bibliothek besuchen, als wenn dies Mütter tun», betont
Bertschi.
Aber lernen Knaben tatsächlich anders als Mädchen? «Studien stellen
grosse sprachlernbezogene Unterschiede fest», bestätigt die Expertin für
Leseforschung. Eine 2015 in fast allen deutschen Bundesländern durchgeführte
Studie zu didaktisch-methodischen Präferenzen im Englischunterricht brachte
markante Abweichungen hervor: Viertklässlerinnen lernen «signifikant lieber»
Vokabeln, lösen lieber Arbeitsblätter oder lesen lieber als ihre Mitschüler.
Die Liste liesse sich noch deutlich verlängern. Die Knaben hingegen zeigen nur
an zwei Methoden marginal mehr Interesse als die Mädchen: beim Hören von Texten
und beim spielerischen Verbinden von Wörtern zu Sätzen. Dies unterstreicht die
Befürchtung, dass sich Knaben von den gängigen Unterrichtsmethoden wenig
angesprochen fühlen.
Unabhängig vom Geschlecht verfügen die meisten Kinder beim Schuleintritt
über eine grundsätzliche Lernlust. «Sie wollen zeigen, was sie können»,
berichten viele Lehrerinnen und Lehrer. Entsprechend sind auf der Unterstufe in
den Sprachfächern bei der Motivation so gut wie keine Differenzen zwischen
Mädchen und Knaben auszumachen. Doch bereits in der Mittelstufe treten
deutliche Unterschiede auf. Viele Knaben sind demotiviert. In der Oberstufe
wird die Kluft zwischen den Geschlechtern in der Regel noch grösser – um dann
nach der Pubertät wieder kleiner zu werden.
Dies führt Bertschi in erster Linie auf Rollenstereotype zurück: «Je
stärker Knaben ihr Selbstbild nach fixen (männlichen) Geschlechterbildern
ausrichten, desto weniger interessiert sind sie am Lesen und desto geringer ist
in der Regel ihre Lesekompetenz.» Problematisch daran ist, dass fundierte Lese-
und Schreibkompetenzen auch für die spätere Bildungslaufbahn relevant sind –
und deren Richtung entscheidet sich in den Jahren zwischen Mittel- und
Oberstufe.
Begeisterung über Inhalte
Bettina Imgrund macht unter anderem die vorherrschenden
Unterrichtsmethoden für das schwindende Interesse an Sprachen verantwortlich.
Die Leiterin des Fachbereichs Fremdsprachen an der Pädagogischen Hochschule
Thurgau hat untersucht, was es für einen guten Französischunterricht auf der
Primarstufe braucht. «Die Begeisterung für eine Sprache weckt man über Inhalte,
die nah am Leben der Kinder sind und die dann zu kulturell relevanten Themen
weiterentwickelt werden», sagt Imgrund. Als eines der wichtigsten Merkmale für
einen qualitativ hochstehenden Unterricht bezeichnet sie die Fähigkeit einer
Lehrperson, das Vorwissen der Kinder aktiv einzubinden und es in neue,
interessante Zusammenhänge zu stellen, die eine Herausforderung für die
Schülerinnen und Schüler darstellten. «Dazu muss die Lehrperson den Stoff
verstanden haben und ihre Klasse sehr gut kennen», betont Imgrund.
Fazit für den Deutsch- und den Fremdsprachenunterricht: Knaben sind
anspruchsvoll. Neben entsprechenden Rollenvorbildern aus ihrem Umfeld benötigen
sie qualitativ guten Unterricht, auf sie zugeschnittene Methoden und einen
etwas anderen Themenmix. Solange erheblich mehr Mädchen die Matur machen, setzt
unser Schulsystem dies nicht um.
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