Eine breite Treppe, eine grosse Tür,
klassizistische Säulen und eine Turmuhr – das sind Merkmale alter Schulhäuser.
Die Kinder stiegen zur Bildung empor. Fakten und Facetten zum Bildungsaufbruch
des 19. Jahrhunderts.
Zur Bildung stieg man empor, Journal21.ch, 8.8. von Carl Bossard
Wer alte Schweizer Schulhäuser betrachtet, ist immer wieder verwundert
über die architektonische Pracht dieser Bauten. Viele weisen Residenzcharakter
auf. Sie waren der Stolz der Gemeinde und galten als Tempel des Aufbruchs und
Fortschritts. Selbst im entlegenen Dorf.
Kinder: ökonomische Ressourcen
Der Weg aus der muffig-maroden Schulstube der frühen Neuzeit ins
geräumig-grosse Schulhaus des späten 19. Jahrhunderts war zäh und lang. Man
brauchte die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall war
notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch.
Einen regelmässigen Schulbesuch gab es nicht.
Die Kinder waren Arbeitspotential und nicht Persönlichkeiten mit
individueller Zukunft. „Unter zehn Kindern konnte kaum eins das Abc“, schildert
Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) die Situation in seinem Stanser Brief
von 1799. Ulrich Bräker, der „arme Mann vom Tockenburg" (1735-1798),
wusste es. In seinem Tagebuch heisst es: „Lesen – wahrlich ein seltenes Glück.“
Das wollten die Promotoren einer besseren Zeit ändern. Doch das Unterfangen war
dornig und der Pfad steinig.
Die Utopie als Handlungsmassstab
Das 18. Jahrhundert regte auf breiter Grundlage eine Reform des Schul-
und Erziehungswesens an. Darum wird es als „Jahrhundert der Aufklärung und
Vernunft“ bezeichnet und darüber hinaus mit dem Attribut des „pädagogischen“
versehen. Die Aufklärung orientierte sich nicht an der Realität, sondern an der
Utopie einer neuen Zeit und besseren Zukunft. Die Idealität war ihr Massstab und
Immanuel Kant ihr Exponent – nach ihm richteten sich ganze Generationen.
In seiner berühmten Schrift, „Was ist Aufklärung?“, aus dem Jahr 1784
skizzierte der Königsberger Philosoph das ideale Bild eines mündigen Bürgers.
Er sollte imstande sein, sich seines eigenen Verstandes ohne Hilfe anderer zu
bedienen. Dazu gehört Mut. Und diesen Mut forderte Kant ein: „Sapere
aude!“ – so sein Leitgedanke.
Goethe und Schiller studierten Kant; Beethoven bewunderte ihn, Wilhelm
von Humboldt folgte ihm. Er beeinflusste auch viele Schweizer. Der erste
helvetische Bildungsminister, Philipp Albert Stapfer, war an Kant geschult –
ebenso Johann Heinrich Pestalozzi.
Bildung als Treiber gesellschaftlicher Entwicklung
Es war Pestalozzi, dieser grosse Erzieher und Sozialreformer, der Ernst
machte mit einer der gewaltigsten Ideen der Aufklärung: dass die Welt
verbesserbar sei, und zwar über Bildung. In kühner Weise hat er diesen neuen
Glauben angewendet auf die Kinder, hat in ihrer Verbesserung den ersten Schritt
zur Verbesserung des Ganzen erkannt und seine Lebensarbeit darauf ausgerichtet.
Er hat begriffen, dass Erziehung langsam geht, umständlich, dass sie die
Menschen nicht dressieren darf wie Affen oder Soldaten, sondern alles zusammen
entwickeln muss, die Gefühle im Herzraum, den Scharfsinn im Kopf und die
Geschicklichkeit der beweglichen Hand. Er hat es begriffen, hat es gelehrt, und
meistens ist er in der Praxis gescheitert, weil sein funkelnder Kopf den
tastenden Händen voraus- und davonlief. Aber versucht hat er es mit einer
verzehrenden Glut, schrieb der Literat Peter von Matt. (1) Das wirkte
ansteckend. Gelebte Aufklärung.
Ein demokratischer Staat braucht gebildete Bürger
Die Geburtsstunde der Schweizer Volksschule liegt in der Helvetik
(1798-1803). Mit ihrer bahnbrechenden Schulpolitik legte sie die pädagogische
„Frühlingssaat“. Doch es dauerte lange. Die Restauration ab 1815 hemmte den
Aufbruch und band vieles wieder zurück. Die Zeit war noch nicht reif.
Erst der Bundesstaat von 1848 nahm die Ideen der Helvetik wieder auf.
Die Schweiz realisierte ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was die
Helvetische Republik erreichen wollte: nämlich eine umfassende und für alle
obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.
Zur Bildung steigt man empor
Die Expansion der Bildung nach 1850 rief nach Raum. In der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts löste das Schulhaus die nicht so gute alte
Schulstube ab. Die oft stickige Enge des Zimmers wich der Weite eines Gebäudes.
Jede Gemeinde baute ihr Schulhaus, meist mit klar gegliederter Fassade und
einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder stiegen zur Bildung empor – und
durchschritten für den Unterricht die grosse Eingangstüre. Symbol und Auftrag
zugleich.
Neben der Kirche erhielt oft auch das Schulhaus eine Uhr. Sie
signalisierte die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr
als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens.
Aufbruch in die Zukunft
Das Schulhaus wurde überall zum stolzen Fortschrittszeichen. 1879 zum
Beispiel weihte die Schulgemeinde Stans das Knabenschulhaus ein – mit Pomp und
Pathos, mit Weihwasser und Weihrauch, mit Lob und Lied. Der festlich-feierliche
Akt vereinte das kommunale und kirchliche Element. Der Bau war ein Werk, das
„der Gemeinde zur Ehre, der lieben Jugend zum Wohl und Heil gereicht […] für
Zeit und Ewigkeit“, meinte der Stanser Dorfpfarrer und Schulpräsident in seiner
Ansprache. Gross war die Zuversicht und hoch die Erwartung, die Kirche und
Behörde auf die Schule projizierten: „Gebt mir eine wahrhaft gute Schule, und
ich verspreche Euch eine glückliche Gemeinde!“
Ähnlich klang es bei der Einweihung vieler Gemeindeschulhäuser. Mit
gestärktem Selbstwert blickte man auf die neuen Bildungstempel.
Bildung ist ein Bergaufprozess
Das „Volk im Zwilch“ aus seiner Not herausführen und emporführen – und
es dem „Volk in Seide“ über Bildung gleichstellen, das war Pestalozzis Idee,
davon träumten die Aufklärer.
Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, Lernen und sich bilden
ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – dass wusste die
Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus
symbolisierte es. Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den
Aufstieg zur Bildung.
(1) Peter von Matt, Die tintenblauen Eidgenossen. Über die
literarische und politische Schweiz. München 2001.
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