Kantone wie der Thurgau, die dem Harmos-Konkordat nicht beigetreten
sind, müssen sich laut Staatsrechtler Andreas Glaser nicht zwingend an dessen
Vorgaben halten. Damit widerspricht er dem Bundesamt für Kultur.
Schützenhilfe im Sprachenstreit, NZZ, 11.7. von Christoph Forster
Bundesrat Alain Berset hat vergangene Woche den Kantonen gedroht: Der
Bund werde intervenieren, falls sie sich nicht an die Abmachung halten, eine zweite
Landessprache bereits in der Primarschule zu unterrichten (NZZ 7. 7. 16). Damit
ist in erster Linie der Kanton Thurgau gemeint, der drauf und dran ist, den
Französisch-Unterricht von der Primarschule in die Oberstufe zu verschieben.
Das neue Regime soll auf das Schuljahr 2017/18 in Kraft treten. In weiteren
fünf Kantonen sind Initiativen hängig, die den Unterricht von nur noch einer
Fremdsprache in der Primarschule fordern.
Unterstützung erhält der Kanton Thurgau nun vom Zürcher Staatsrechtler
Andreas Glaser. In einem im «Schweizerischen Zentralblatt für Staats- und
Verwaltungsrecht» publizierten Aufsatz setzt er Kontrapunkte im Sprachenstreit.
Im Unterschied zur vorherrschenden Meinung sind laut Glaser Kantone, die nicht
Mitglied des Harmos-Konkordats sind, nicht zwingend an dessen Vorgaben
gebunden. Kantone, die einen Beitritt zum Konkordat abgelehnt hätten, könnten
nicht durch die Hintertür einer offen formulierten Verfassungsbestimmung den
identischen Pflichten unterworfen werden wie die Harmos-Kantone, schreibt
Glaser. Der Begriff der Koordination im entsprechenden – vielzitierten –
Verfassungsartikel (Art. 62 Abs. 4) impliziere ein Element der Freiwilligkeit.
Die Kantone sind deshalb laut Glaser lediglich zu Koordinationsbemühungen
verpflichtet. Ein Abweichen vom Weg der Koordination sei nicht von vorneherein
verboten. «Es kann also von einer blossen Obliegenheit der Kantone zur
Harmonisierung anstelle einer verbindlichen Rechtspflicht gesprochen werden.»
Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für den Kanton Thurgau, der
dem Harmos-Konkordat nicht beigetreten ist. Das Stimmvolk sprach sich 2008
dagegen aus.
Die Alternativen
Damit widerspricht Glaser auch dem Bundesamt für Kultur. In einem
Bericht von Anfang 2015 zuhanden des Parlaments schreibt das Bundesamt, ein
Kanton, der auf einen Beitritt zum Konkordat verzichte, könne seiner
Harmonisierungspflicht nur dadurch nachkommen, indem er seine kantonale
Regelung am gemeinsam erarbeiteten Kompromiss ausrichte.
Im Harmos-Konkordat haben sich die Kantone auf das Modell 3/5 als
Kompromiss festgelegt: Unterricht in der ersten Fremdsprache ab der 3.
Primarschule, in der zweiten ab der 5. Primarschule. Wenn nun Kantone den
Unterricht in nur einer Fremdsprache in der Primarschule einführen, ist das
konform mit Bundesrecht, wie Glaser schreibt. Zum gleichen Schluss kam der
Nidwaldner Regierungsrat, der eine Initiative mit der entsprechenden Forderung
für gültig erklärte. Das Nidwaldner Stimmvolk schickte die Initiative dann
bachab.
Bleibt die Frage nach alternativen Instrumenten zur Durchsetzung des
Harmonisierungsziels. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Die Bundesversammlung
könnte die Bestimmungen des Konkordats für allgemeinverbindlich erklären.
Glaser bevorzugt indes die zweite Variante, weil sie transparenter und
demokratisch breiter abgestützt ist: eine Revision des Sprachengesetzes, wie es
auch der Bundesrat will.
Nicht alles hängt am Unterricht
Ob die Harmonisierung des Schulwesens gescheitert ist, ist laut Glaser
grundsätzlich eine Rechtsfrage, die jedoch eine starke politische Komponente
habe. Es sei aus heutiger Sicht vertretbar, die Harmonisierung des
Fremdsprachenunterrichts an der Primarschule als gescheitert zu betrachten. Der
Bund dürfe deshalb gesetzliche Bestimmungen erlassen. Laut dem Staatsrechtler
kann die vom Bundesrat favorisierte Variante, wonach der
Fremdsprachenunterricht in einer zweiten Landessprache in der Primarschule
beginnen muss, grundsätzlich auf die Bundesverfassung (Art. 62 Abs. 4) gestützt
werden.
Rechtspolitisch kommt Glaser hingegen zu einem anderen Schluss. Es sei
im mehrsprachigen Bundesstaat erträglich, dass einige Kantone in Abwägung mit
anderen bildungspolitischen Zielen vom Grundsatz «Zwei Fremdsprachen in der
Primarschule» abweichen würden. Verständigung und Austausch zwischen den
Sprachgemeinschaften liessen sich nicht alleine durch den Unterricht in einer
zweiten Landessprache sicherstellen. Ebenso wenig würden sie durch dessen
Fehlen existenziell infrage gestellt. Der Bund sollte daher laut dem
Staatsrechtler von seiner Kompetenz «nur mit grösster Zurückhaltung Gebrauch
machen».
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