Derzeit stösst der bildungspolitisch interessierte Leser öfters
auf Buchpublikationen mit Titeln, welche die Bildungskatastrophe an die Wand
malen - so wie «Lehrerdämmerung» von Christoph Türcke oder auch «Theorie der
Unbildung» von Konrad Paul Liessmann dies tun. Beide Autoren gehen darin von
einem vermeintlich gesicherten Wissen über die Rolle der Lehrenden in den
Prozessen der Bildung aus, und beide sehen die Heranwachsenden durch die «neue
Lernkultur in den Schulen» bedroht.
"Beschwörungen" - Rolf Arnold kritisiert das Bildungsverständnis von Türcke und Liessmann, Bild: Zeitschrift für Evaluation www.zfev.de
Es dämmert - nach vorn, NZZ, 19.4. Gastkommentar von Rolf Arnold
Doch
sind die überlieferten Formen von Erziehung und Bildung schon allein deshalb
auch zukunftstauglich, weil wir sie historisch herausgebildet haben? Statt auf
nüchterne und evidenzbasierte Prüfung dieser Frage stösst man in beiden Büchern
auf Polemik. So, wenn zum Beispiel Christoph Türcke den Eindruck erweckt, als
wären Begriffe wie «Kompetenz» oder «Inklusion» blosse «Glaubensartikel», die
auch deshalb in die Welt gesetzt wurden, um an die Stelle der Entwicklung von
Persönlichkeiten die Herstellung von «Kompetenzkrüppeln» setzen zu können - mit
unabsehbaren Folgen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.
Ähnlich
klingen auch die Beschwörungen, welche Konrad Paul Liessmann nicht müde wird
unter die Leute zu bringen. Auch er spricht von «Dämmerung» - allerdings
beklagt er die «Fächerdämmerung». Für ihn scheint klar zu sein, dass
inhaltliche Kenntnisse jeglicher Kompetenzreifung vorauszugehen haben. Eine
differenzierte Auseinandersetzung mit neueren Kompetenzforschungen, welche die
kompetenzstiftende Bedeutung von Wissen untersuchen und zu der Einsicht
gelangen, dass «Wissen keine Kompetenz [ist]», wie John Erpenbeck etwa in
seinem Buch «Stoppt die Kompetenzkatastrophe» detailliert aufzeigt, findet
nicht statt.
Die
angriffige Botschaft ist in beiden Büchern dieselbe: Stoppt das Kompetenzgerede,
und sorgt dafür, dass alles so bleiben kann, wie es war! Denn damals, so die
Ansicht der Autoren, war alles gut. Verfolgt man den bildungswissenschaftlichen
Diskurs jedoch aufmerksam, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass der
Anspruch der Bildungsinstitutionen, junge Menschen auf das Leben vorbereiten zu
können, stark ins Wanken geraten ist.
Wenn
etwas an den Prognosen Ray Kurzweils dran ist, laut denen wir im 21.
Jahrhundert eine Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen, der
menschlichen Möglichkeiten und der Anforderungen an den Menschen erleben
werden, die in ihrer Intensität dem Wandel der zurückliegenden 20 000 Jahre
Menschheitsgeschichte entspricht, dann müssen wir das unser Bildungswesen bis
anhin tragende Konzept «Learning from the past» dringend modifizieren.
Dabei
werden wir uns von der Fixierung auf Inhalte lösen müssen, um die
Nachwachsenden auch als Persönlichkeiten so zu stärken, dass sie tatsächlich in
der Lage sind, «neuartige Situationen selbstgesteuert und sachgemäss zu
bewältigen» - wie es in der Definition des Kompetenzbegriffs des Europäischen
Qualifikationsrahmens (EQR) heisst. Klug vorausschauende Bildungstheoretiker
haben früh erkannt, dass dies das Anliegen einer formalen Bildungstheorie sein
muss, die sich gründlicher als bisher um die Klärung der Frage bemüht, wie
entsprechende Fähigkeiten in den Subjekten tatsächlich angebahnt und gefördert
werden können. Wer in solchen Zukunftsinitiativen bloss «Dämmerungen» zu
erkennen vermag, ignoriert und banalisiert diese nicht nur, er lässt die
Bildungspolitik auch mit einem «Weiter-so-wie-bisher» zurück, das keine wirkliche
Perspektiven zu stiften vermag.
Die
neuen Lernkulturen öffnen gegenüber den bisherigen Methoden auch Wege, um der
skandalös geringen Nachhaltigkeit des bisherigen Lernens in Curriculum-Bahnen
zu entkommen, in denen die Kenntnisse mehrerer Schuljahre oft fast vollständig
verblassen. Gleichzeitig ziehen sie entschlossene Konsequenzen aus den
Ergebnissen der Hirnforscher, die uns unisono zurufen: Vermitteln von Inhalten
oder gar Kompetenzen geht nicht! Kompetenzorientierte Lernkulturen setzen
deshalb auf die notwendige Gestaltung von Kontexten für die selbstorganisierte
Aneignung von Inhalten, bei denen weniger die Steuerung oder die Belehrung
durch eine Lehrperson als vielmehr die Begleitung und die Beratung von
Suchprozessen im Zentrum stehen.
Den
gescholtenen neuen Lernkulturen geht es dabei darum, das Konzept einer
«mehrdimensionalen Bildung» zu stärken, wie dies die Vereinigung der
Bayerischen Wirtschaft in ihrer jüngsten Denkschrift mit dem programmatischen
Titel «Bildung. Mehr als Fachlichkeit» fordert. Durch mehrdimensionale
Lernkulturen werden neben den Fachkompetenzen auch «Persönlichkeitsstruktur,
Verhaltenssicherheit und Charakterbildung der Heranwachsenden» gestärkt, wie
zahlreiche Erfahrungen in der schulischen, aber auch in der betrieblichen Bildungsarbeit
eindrucksvoll zeigen. Hierfür bedarf es tatsächlich einer Professionalität bei
den Verantwortlichen, die mit dem Begriff der «Lernbegleitung» treffender
beschrieben ist. Wenn hier etwas zum Vorschein kommt, dann nicht die Abend-,
sondern die Morgendämmerung.
Rolf Arnold ist Professor
für Pädagogik an der Technischen Universität Kaiserslautern.
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