Kompetenzen statt Faktenwissen sollen die Lehrer vermitteln, Bild: Arno Balzarini
Und wo bleibt der kompetente Unterricht? Mamablog Tages Anzeiger, 5.5. von Patrick Hersiczky
Als Lehrer werde ich
regelmässig beurteilt. Im Rahmen dieser Mitarbeiterbeurteilung(MAB)
gibt es Gespräche und Unterrichtsbesuche. Bei der Abschlusssitzung meiner
letzten MAB sagte man mir: «Sie unterrichten sehr kompetenzorientiert, so wie
das der neue Lehrplan 21 vorschreibt.» Ich war überrascht und fiel zugleich in
eine temporäre Entscheidungskrise. Ich überlegte: Ist das nun gut? Dem Tonfall
der beurteilenden Fachperson nach, ja. Doch es plagten mich auch Zweifel: Viele
meiner Berufskollegen sind gegen diesen neuen Lehrplan 21, der sich nicht mehr
für Faktenwissen, sondern für sogenannte Kompetenzen interessiert. Was das
bedeutet, zeigt ein Beispiel aus dem Bereich Geschichte. Zu einem Lernziel
gehört etwa Folgendes:
«Die
Schüler können die Geschichte von ausgewählten
Institutionen und Menschen erzählen, die sich im 20. und 21.
Jahrhundert für Freiheit, Frieden, Wohlstand, Gerechtigkeit oder nachhaltige
Entwicklung einsetzten (Bertha von Suttner, Martin Luther King, Mutter Theresa,
Nelson Mandela, Mahatma Gandhi).»
Das klingt gewiss
spannend. Mich hat der unerschrockene Freiheitskämpfer Nelson Mandela schon
immer fasziniert. Und Mutter Theresa war so etwas wie die Barmherzige aller,
die das Elend der Armut beklagten. Doch ob dies für meine Schüler ebenso
interessant ist, bezweifle ich. Ehrlich gefragt: Wissen Sie, wer Bertha von
Suttner ist?
Der
Lehrplan 21 setzt zu viel Wissen voraus und ist zu komplex in der Umsetzung, weil er zu zu wenig konkret
in den Anforderungen des Schulwissens ist. Das heisst: Schüler müssen Kompetenzen
erlangen, wie man Wissen aneignet. Der eigentliche Inhalt tritt dabei in den
Hintergrund. Doch um Inhalte geht es im täglichen Unterricht.
Kürzlich
habe ich im Geschichtsunterricht die DDR behandelt. Dabei war ich froh, wenn
die Schüler nur schon zwischen Osten und Westen unterscheiden konnten und nicht
als Prüfungsantworten notierten, dass beim Bau der Berliner Mauer die Menschen
von Westen nach Osten geflohen sind. In solchen Situationen weiss ich nie: Nimmt
man mich aufs Korn oder liegt es an meinem Unterricht? Dabei habe ich dieses Mal auf den Film «Good Bye, Lenin» verzichtet, in welchem Sohn Alex seine
Mutter, die wegen eines Schlaganfalls den Mauerfall verpasst hat, mit einer
Notlüge nicht in Aufregung versetzen will: «Bürger der BRD fliehen vor dem
kapitalistischen Konkurrenzkampf in die DDR.»
Aber bitte: Ich möchte
mich nicht über meine Schüler lustig machen. Im gleichen Alter fragte ich
meinen damaligen Lehrer, wie das mit West-Berlin sei. Er antwortete mir, dass
diese Stadt wie eine Insel sei, wobei er es ziemlich treffend erklärt hatte.
Nur hat er wohl nicht berücksichtigt, dass ich mir in meiner kindlichen
Naivität etwas anderes unter dem Begriff Insel vorgestellt habe. Das Label
«Made in Western Germany» faszinierte mich deshalb immer besonders, weil ich
mir vorstellte, dass diese Ware aus Übersee stammen musste.
Man kann den Schülern
nicht vorwerfen, wenn sie 25 Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr genau wissen,
wo die Kommunisten geherrscht haben und wer der Letzte war, der das Licht im
Palast der Republik löschte. Wenn man heute die von Helmut Kohl beschworenen
blühenden Landschaften im Osten besucht und diese mit dem Ruhrgebiet im Westen
vergleicht, kann man schnell die DDR mit der BRD verwechseln.
Für manche Schüler ist
es deshalb immer noch besser, wenn sie wissen, dass die Berliner Mauer 28 Jahre
lang eine unüberwindbare Grenze gewesen ist. Und dass Menschen an dieser Mauer
gestorben sind, weil sie nur eines wollten: Freiheit. Solche Fragen
interessieren meine Schüler, und sie sind neugierig, wollen wissen, wie das
war, in einem totalitären Staat zu leben. Das sind die erhellenden Momente, die
mir bestätigen: Darum bist du Lehrer geworden!
Aber
wie will ich das in einer Prüfung objektiv beurteilen? Manchmal ist es
einfacher, wenn man fragt: «Wie lange hat die Berliner Mauer Ost und West
getrennt?» Oder: Welche Länder haben Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
besetzt? Hierauf können meine Schüler klare Antworten geben und ich Punkte,
wenn es korrekt ist. Aber ob das auch einen kompetenten
Unterricht bedeutet?
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