Norah ist in der vierten Klasse und lernt gerade die Römer kennen
– sie ist begeistert. In welchem Fach das denn drankomme? «Im NMM», ruft sie.
«Natur, Mensch, Mitwelt» ist ein Konglomerat aus Geschichte, Geografie,
Gesellschafts- und Staatskunde. «Die Idee war, einzelne Perspektiven zu einem
Bild zusammenzufügen. Das war nicht erfolgreich», erläutert Béatrice Ziegler,
Präsidentin der Deutschschweizer Geschichtsdidaktik.
Umso
erstaunlicher, dass der Lehrplan 21 mit dem Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften»
(RZG), das in Unter- und Oberstufe Geografie, Geschichte und politische Bildung
ersetzt, den missglückten NMM-Versuch zum Vorbild nimmt. Die Folge: Die Schüler
werden zwar über historische Geschehnisse informiert, ein Fach «Geschichte»
kennen sie allerdings nicht mehr. Römer und Ritter, Weltkriege oder
Bundesverfassung – für Norah und ihre Gspäänli ist alles NMM – und bald RZG.
Schmälert der Lehrplan 21 die Bedeutung des Faches Geschichte? Bild: Wiener Kongress
Das Ende der Geschichte, Basler Zeitung, 16.4. von Nadine A. Brügger
(Nicht)
nur eine Bezeichnung
Zweck
der Schule ist es, auf das Leben und die selbstbestimmte Teilnahme an der
Gesellschaft vorzubereiten. «Wir brauchen ein gesellschaftliches Bewusstsein,
das stark historisch geprägt ist, denn das schafft Identität», sagt Ziegler.
Nur so können Fragen wie: «Wie wollen wir miteinander leben? Woher kommen die
herrschenden Konflikte und wie möchte ich diese gelöst wissen», selbstständig
gelöst werden. «Wenn man das nicht macht, ist der Bildungsauftrag nicht
erfüllt», sagt Ziegler klar. Dann seien die Jugendlichen für eine sinnvolle
Teilnahme an der Gesellschaft nicht ausgestattet.
«Ich
reite nicht darauf herum, dass das Fach dringend ‹Geschichte› heissen muss.
Aber Jugendliche müssen erkennen, was Geschichte ist, was Geografie und was
Politik.» Denn: «Jugendliche haben diese Disziplinen nicht im Kopf, die werden
dahin getragen – oder eben nicht. Wenn Geschichte nicht als Geschichte in
Erscheinung tritt, ist sie in ihren Köpfen nicht vorhanden.» Was dann passiere,
zeige beispielsweise die Soziologie: «Die gibt es in der Schule nicht und darum
gibt es sie auch für die Jugendlichen nicht.» Was bleibe, seien die Ruinen der
Römer, die manche als Hobby gern anschauen. Ulrich Maier, Leiter Mittelschulen
und Berufsbildung, schüttelt den Kopf. Er ist überzeugt, dass die Disziplinen
klar bleiben: «Die Schüler sollen wissen, was sie lernen. Das geschieht aber nicht
durch den Namen eines Fachs, sondern durch methodisches Reflektieren.»
Zieglers
Angst, dass mit dem Namen auch das Wissen um die Zusammenhänge
geschichtswissenschaftlicher Stoffe verloren gehe, rührt daher, dass sie im
neuen RZG von der Geschichte nur noch einzelne Fragmente erkennen kann, deren
Gewichtung nicht festgelegt, sondern in das Ermessen der einzelnen Lehrpersonen
gelegt würden.
Das
Konglomerat RZG ist in acht Kompetenzen aufgeteilt: Vier entfallen auf die
Geografie, vier auf die Geschichte. Mit dabei ist bei den Geschichtskompetenzen
aber auch die politische Bildung, wodurch laut Ziegler das eigentliche
Geschichtspensum noch stärker beschnitten wird: «Auch das ist eine
Mogelpackung, die niemandem etwas bringt.» Maier dagegen sieht darin einen Gewinn
für das integrierende Konzept der Geschichte, die sich seit jeher auf
Hilfswissenschaften stützt. Das formale Aufgehen der verschiedenen Kompetenzen
ineinander, befürchtet Ziegler aber, sende eine schwerwiegende Botschaft für
die Lehrer, aber auch für die breite Öffentlichkeit: «Es impliziert, dass
Geschichte als gering geachtet wird.» So wirkt das auch auf Peter Gautschi,
Leiter des Luzerner Zentrums für Geschichtsdidaktik: «Die Deutschschweiz
erachtet heute gemäss Lehrplan 21 Geschichte als weniger wichtig als früher.»
Er bestätigt, dass RZG weniger historisches Wissen vermitteln wird als bisher.
Entsprechend,
und das sei neben dem Bewusstsein der Schüler die zweite wichtige Hürde, würden
weniger Menschen sich darauf einlassen, so Ziegler. Das wiederum beeinflusse
die Politik: Die definitive Entscheidung, ob die acht Kompetenzen als
Geschichte und Geografie, oder als Mix unterrichtet werden, liegt beim Kanton.
«Wird Letzteres gewählt, entscheidet erst recht die Lehrperson, wie viel Zeit
sie welchem Thema pro Woche zugesteht.»
Was
passiert mit den Lehrern?
Wenn
es keinen Geschichtsunterricht mehr gibt, fragt sich Ziegler, braucht es denn
dann noch Geschichtslehrer? «Je nach Entscheidung der Kantone, müssen die
Pädagogischen Hochschulen entscheiden, ob sie weiterhin Geschichtslehrer
ausbilden, oder ob sie den Studiengang anpassen.» Das wäre problematisch,
diagnostiziert sie doch bereits einen Mangel an Geschichtswissen in Schule und
Gesellschaft. Die von der Aargauer Zeitung gestellte Frage: «Glauben Sie, dass
Wilhelm Tell wirklich gelebt hat?», beantworteten 31 Prozent der Befragten mit:
Ja.»
Maier
beruhigt: Die Umbenennung des Fachs bedeute nicht, «dass die Kinder keinen
Geschichtsunterricht mehr haben – er heisst nur nicht mehr so». Ändern werde
sich, dass vermehrt Themenblöcke stattfinden: «Stadtentwicklung beispielsweise
ist ein Gebiet, in dem politische Bildung, Geschichte und Geografie wunderbar
ineinandergreifen.» Dazu brauche es noch immer Lehrer. Was Ziegler befürchtet,
geht aber tiefer als ein Themenblock, es geht um das Selbstverständnis einer,
unserer Gesellschaft: «Wie sehr unser Leben historisch grundiert und gedacht
ist, das geht dann unter in der Aufmerksamkeit der Jugendlichen und damit
analog auch in der Gesellschaft.»
Auch
die Uni ist besorgt
Auch
an der Uni ist man besorgt über die eingeschlagene Richtung: «Das grosse
Problem des Lehrplans 21 ist die Abschaffung des Fachs Geschichte», so Lucas
Burkart, Professor an der Uni Basel. Das Wegfallen des Begriffs «Geschichte»
wiege so schwer, weil sie lehre, «Zusammenhänge in die Breite, aber auch
zwischen Geschichte und Gegenwart, herstellen zu können».
Kollege
Martin Lengwiler, Leiter des Departments für Geschichte, fürchtet, dass sich
Maturanden nicht mehr für das Studienfach Geschichte einschreiben, wenn sie in
der Schule erst spät damit konfrontiert werden.
Auch
hier relativiert Maier: «Die Sorgen der Universität sind unbegründet, diese
Entscheidung findet in der Regel erst im Gymnasium statt. Hier wird Geschichte
weiterhin als Grundlagen- und Ergänzungsfach unterrichtet.» Aber, so Maier:
«Auch die Gymnasien müssen mit dem Lehrplan 21 nochmals über die Bücher mit
ihren Lehrplänen.» Steht die Geschichte auch hier auf Messers Schneide? «Es
geht vor allem auch darum, im Unterricht keine Doubletten zu produzieren.»
Geschichte als Fach bleibt den Gymnasiasten also erhalten – der Grossteil der
Schüler wählt aber eine Berufslehre. «Nur ein sehr elitäres Gesellschaftssystem
würde sagen, dass die Mehrheit der Gesellschaft nicht wichtig ist.»
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen