Bildungsverfassung 2006 als Produkt des Zeitgeistes, Bild: ETH Zürich
Und sie bewegt sich doch, die Schweizer Bildungspolitik, NZZ, 3.3. von Mauro Dell'Ambrogio
Hier und dort wird behauptet, der Schweiz mangle es
an einer Bildungsstrategie. Diese Behauptung ist indessen nur selten von
Vorschlägen begleitet, wie denn eine solche aussehen könnte. Wenn aber doch,
dann sind die Vorschläge extrem einseitig oder in Verkennung der
verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten oder zuweilen naiv und kaum zu einem
breiten Konsens fähig. Etwa im Sinne von: Es braucht mehr (oder weniger)
Akademiker, oder es braucht mehr (oder weniger) Orientierung an den (aktuellen)
Bedürfnissen des Arbeitsmarktes.
National gesteuerte Bildungspolitik
Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass
Bildungspolitik mindestens so komplex ist wie Wirtschaftspolitik.
Dementsprechend lässt sie sich auch nicht auf «Strategien» reduzieren, zum
Beispiel, ob nun dem Finanzsektor oder dem Tourismus Priorität zuzuweisen sei.
Denn es ist zu bedenken, dass es um Investitionen geht, die, wenn überhaupt,
erst nach Jahrzehnten ihre Früchte tragen. Und zu bedenken ist auch, wie
wohlgemeint die Absicht ist, eine Allgemeingültigkeit zu diktieren, so zu tun,
als ob man jeder und jedem den persönlichen Weg festschreiben könne. Und so,
als ob es darum ginge, den Einzelnen - den Lernenden in der Ausbildung wie den
Unternehmer in der Wirtschaft - von jedem Risiko und jeder Eigenverantwortung
fernzuhalten.
Die heute international anerkannte Stärke des
Schweizer Bildungssystems ist auch eine Folge davon, dass die Schweiz nie eine
national gesteuerte Bildungspolitik gehabt hat. Das hat uns nicht nur erlaubt,
eine Vielfältigkeit zu bewahren und das Potenzial, innovativ zu bleiben,
sondern wir haben so auch unwiderrufliche Fehler vermeiden können. Solche haben
verschiedene andere Länder in früheren Jahrzehnten, vom Zeitgeist verlockt,
begangen, etwa indem sie die Berufslehre mit dem irrtümlichen Ziel
«Chancengleichheit» zugunsten des Universitätszuganges für alle geopfert haben.
Wie wankelmütig der bildungspolitische Zeitgeist ist, zeigen auch die
Entwicklung des in der Bildungsverfassung 2006 zentral festgelegten
Harmonisierungsgebots und die heutzutage mehr von Skepsis als von Begeisterung
geprägte Diskussion um Volksschullehrpläne.
Hinter jeder nationalen Strategie steht
unvermeidlich eine planwirtschaftliche Versuchung: In der Wirtschaftspolitik
mutet man besser den Akteuren auf dem Feld ihre eigenen Strategien zu, und der
Staat beschränkt sich hier auf ordnungspolitische Grundsätze oder handelt
föderalistisch. In diesem Sinne steht Bildungspolitik in der Schweiz näher bei
der Strategie eines Investors als bei derjenigen einer Unternehmensführung.
Einheitlichkeit in der Strategie ist nicht einmal
für die wenigen Bildungseinrichtungen zweckmässig, die in der alleinigen
Zuständigkeit des Bundes stehen. Beispielsweise pflegen die EPF Lausanne und
die ETH Zürich ganz unterschiedliche Haltungen bezüglich des universitären
Fernstudiums - extrem proaktiv die erste, sehr skeptisch die zweite. Aus
nationaler Sicht eine optimale Lage: Wer recht hat, das wird die Zeit erweisen.
Bei einheitlichem Denken würden die kritische Distanz in der Beurteilung und
die Möglichkeit der Korrektur verloren gehen, in der Politik noch mehr als in
der Wirtschaft; genau wie es anderswo beim Abbau der Berufslehre geschehen ist.
Trotzdem ist in den letzten zwei Jahrzehnten so
vieles - und das koordiniert - im Schweizer Bildungssystem passiert, dass kein
unbefangener Beobachter von Strategiemangel sprechen würde. Die Berufsbildung
ist vollumfänglich in das Bildungssystem integriert und mit neuen Angeboten
aufgewertet worden; Fachhochschulen und Berufsmaturität haben die
Gleichwertigkeit der Bildungswege und die Durchlässigkeit zwischen ihnen
ermöglicht; im Bologna-Prozess haben unsere Hochschulen den internationalen
Anschluss nicht verpasst; Gymnasial- und Fachmaturität wurden neu gestaltet;
die vereinfachte politische Governance des Hochschulraumes und die bessere
Finanzierung der höheren Berufsbildung stehen vor der Bewährungsprobe oder vor
der parlamentarischen Zustimmung; Kantone und Bund respektieren ihre jeweiligen
Zuständigkeiten, aber geben sich gestützt auf ein gemeinsames
Bildungsmonitoring und den entsprechenden -bericht gemeinsame
bildungspolitischen Ziele.
Eine ganz andere Sache sind die pädagogisch,
manchmal auch finanz- oder arbeitsmarktpolitisch begründeten, wiederkehrend
lokal geführten Reformen. Getrennt lernen nach Begabung oder Integration?
Früher oder späterer Zugang zu einem Fach? Teilpensen zulassen oder nicht? Mehr
Lehrpersonen anstellen oder sie besser bezahlen? Bei diesen und ähnlichen
Herausforderungen divergieren die Meinungen am stärksten. Für die einen sind
sie ein schädlicher, bürokratisch geführter Reformdrang. Die andern sehen die
Notwendigkeit einer übergeordneten Strategie, in der Hoffnung, auf der höheren
Ebenen mehr beeinflussen zu können.
Kein übergeordneter Zwang
Gerade in diesen nicht systemischen, aber materiell
noch wichtigeren Fragen kann eine flächendeckende Strategie mehr schaden als
nützen. Langfristige Versuche und Evaluationen sind um diese Fragen nötig, und
unterschiedliche Rahmenbedingungen können dazu führen, dass eine gute Lösung
nicht überall anwendbar und also nicht allgemeingültig ist. Konsolidierte Good
Practices setzen sich jedenfalls auch ohne übergeordneten Zwang durch.
Interesse an einem guten Bildungsangebot hat jedermann, und auf lokaler Ebene
fallen Korrekturen und Abstimmungen mit den verfügbaren Ressourcen bestimmt
einfacher. Wer also sich eine nationale Bildungsstrategie wünscht, so als gäbe
es diese nicht bereits, ignoriert die Fakten. Und wer damit mehr Interventionen
vom Bund meint, verkennt ein Schweizer Erfolgsrezept.
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