"Niemand traut sich einzugreifen", Bild: dkoche/photocase.de
"So ziehen wir Rotzlöffel heran", Die Zeit, 29.3. von Jeannette Otto
DIE ZEIT: Wann waren Sie zum
letzten Mal mit Ihren Kindern in einem Restaurant?
David
Eberhard: Das ist
nicht so lange her. Warum fragen Sie?
ZEIT: Weil die Wirte in
Stockholm genug haben von Eltern mit Kindern, die sich nicht benehmen können.
Ein Lokal hat Familien den Zutritt nun sogar verboten. Und das im
kinderfreundlichen Schweden.
Eberhard: Ich kann das gut
verstehen. Es gibt immer Kinder, die schreien, Getränke verschütten, durch die
Räume rennen oder bei minus fünf Grad die Tür aufreißen. Die Eltern sitzen
daneben und denken nicht daran, einzugreifen.
ZEIT: Warum sagt dann kein
anderer was?
Eberhard: Das traut sich niemand
mehr. Eltern können sehr unangenehm werden, wenn man ihren Nachwuchs
kritisiert. Früher gab es eine Gemeinschaft der Erwachsenen. Man hatte die
gleichen Werte, was die Erziehung anging. Wenn sich ein Kind danebenbenahm,
ging man hin und sagte: Hör auf damit! Diese Übereinkunft gibt es nicht mehr.
Wir Erwachsenen stehen nicht mehr füreinander ein, wir stehen nur noch für
unsere Kinder ein.
ZEIT: Ihr neues Buch Kinder an
der Macht erscheint in wenigen Wochen auf Deutsch. Darin
behaupten Sie, die liberale Erziehung sei gescheitert. Warum?
Eberhard: Weil sich Eltern
nicht mehr wie verantwortungsvolle Erwachsene verhalten. Sie glauben, beste
Freunde ihres Kindes sein zu müssen. Sie stellen sich auf eine Stufe mit dem
Kind, wagen nicht, ihm zu widersprechen, Grenzen zu setzen. Sie treffen keine
Entscheidungen mehr, sondern wollen so cool und hip und rebellisch sein wie
ihre Kinder. Unsere Gesellschaft besteht nur noch aus Teenagern.
ZEIT: Aber meinen Sie
wirklich, dass auch deutsche Eltern sich von ihren Kindern vorschreiben lassen,
wohin sie in den Urlaub fahren, was es zu Essen gibt, was sie im Fernsehen
schauen?
Eberhard: Viele werden sich
wiedererkennen. Eltern trauen sich nur ungern mit Erziehungsproblemen nach
außen. Die sagen: Bei uns ist alles in Ordnung, kein Thema! Und trotzdem haben
sie permanent ein schlechtes Gewissen, weil sie glauben, so vieles falsch zu
machen. Sie kommen abends erschöpft von der Arbeit und kochen, was das Kind
mag, weil sie keine Diskussionen wollen. Sie lassen es auch länger als
vereinbart vor dem Fernseher sitzen, um Ruhe zu haben. Sie verbringen ihren
Urlaub an Orten, an denen die Kinder beschäftigt sind, obwohl sie ohne Kinder
nie dorthin fahren würden. Ich sage nicht, dass das falsch ist. Ich sage nur,
ihr müsst das Kind nicht komplett ins Zentrum eures Lebens stellen. Es gibt
keinerlei wissenschaftliche Belege dafür, dass es euren Kinder damit besser
geht, dass sie später erfolgreicher werden oder sorgenfreier leben.
Zum Gespräch
besuche ich David Eberhard in seiner Wohnung im Herzen Stockholms. Ein
Wellensittich zwitschert, die Kinder sind noch in Schule und Kita. David
Eberhard holt die vier Bücher, die er geschrieben hat, aus dem Regal. Seine
Lieblingsthemen sind die Erziehung, die gesellschaftliche Sehnsucht nach
Geborgenheit und der Sicherheitswahn der Erwachsenen. In der schwedischen
Ausgabe des neuen Buches ist sein zweijähriger Sohn zu sehen, in
Sicherheitsweste und Helm, angeschnallt auf einem Kinderautositz. Zum Gespräch
kam Eberhard direkt aus der Klinik. Er ist leitender Psychiater mit 150
Mitarbeitern. Seine dritte Frau ist Krankenschwester.
ZEIT: Sie haben selbst
sechs Kinder. Wer bestimmt in Ihrer Familie?
Eberhard: Ich entscheide.
ZEIT: Es gibt keine
demokratischen Familienstrukturen?
Eberhard: Ich finde nicht, dass
die Familie eine demokratische Institution sein sollte. Die Beziehung zwischen
Erwachsenen und Kindern ist immer asymmetrisch. Es ist die Beziehung von
Meister und Schüler. Der eine unterrichtet, der andere hört zu. Die Eltern
können Dinge besser einschätzen, weil sie mehr Erfahrung haben, mehr wissen.
Sie sollten die Regeln machen.
ZEIT: Wie gelingt es Ihnen,
inmitten der liberalen schwedischen Gesellschaft Ihre eigenen Kinder streng und
autoritär zu erziehen?
Eberhard: Ich darf mich nicht
zu sehr unterscheiden von den anderen Eltern, denn das würde meine eigenen
Kinder in Schwierigkeiten bringen. Wenn ich militant autoritär wäre, ginge das
nicht.
ZEIT: Sie müssen sich also
beherrschen?
Eberhard: Nein, das geht schon. (lacht) Auch
wenn manche meiner Leser denken: Der will zurück zur militärischen Erziehung,
zurück zur Prügelstrafe. Das habe ich nie geschrieben. Ich würde Kinder nie
schlagen.
ZEIT: In Deutschland haben
wir jetzt viel über den Papst diskutiert und seine
Äußerungen zum kleinen Klaps als akzeptabler Erziehungsmethode.
In Ihrem Buch schreiben Sie, es gebe keine Belege dafür, dass es autoritär
erzogenen Kindern im Leben schlechter ergehe, nicht einmal jenen, die
geschlagen wurden. Wie nah sind Sie dem Papst?
Eberhard: In dieser Frage absolut
nicht nah. Mir ging es darum, zu sagen, dass es für Kinder wichtig ist, so
großgezogen zu werden, dass es den Werten und Normen der Gesellschaft
entspricht, in der sie leben. Für Kinder, die in einer Gesellschaft aufwachsen,
in der Schläge akzeptiert sind, ist das also nicht so traumatisch. Eltern in
der westlichen Welt befürchten inzwischen allerdings, die kleinste Kritik könne
ihr Kind traumatisieren. Die trauen sich nicht mal mehr, zu ihrer
pubertierenden Tochter zu sagen: Iss nicht so viel Schokolade, sonst wirst du
zu fett, weil sie Angst haben, das Mädchen könnte sofort magersüchtig werden.
Dabei können wir Kindern ruhig etwas zumuten, die halten das aus. Wir müssen
sie nicht behandeln wie Porzellanpuppen.
Eberhard
setzt sich in seinem Buch ausführlich mit der Angst der Eltern auseinander.
Obwohl es heute kaum noch ernsthafte Gefahren für junge Familien gebe,
entstünden immer neue Ängste. Eberhard zeigt an vielen Beispielen die
Widersprüche der modernen Elternschaft. Er provoziert, will Eltern zum Hinterfragen
ihres eigenen Verhaltens veranlassen. Aus etlichen internationalen Studien
zieht er seine Schlussfolgerungen. Um Kinder zum Beispiel in ihrer Resilienz zu
stärken, sagt Eberhard, sollte man ihnen früh beibringen, mit Widrigkeiten
fertig zu werden.
ZEIT: Woher kommt die Angst, dem
Kind durch Erziehung und Strenge Schaden zuzufügen?
Eberhard: Mein Eindruck ist, die
haben die Eltern von den Experten.
ZEIT: ... also von Leuten wie
Ihnen?
Eberhard: Ich sage den Eltern, sie
sollten nicht so viele Ratgeber lesen.
ZEIT: Nur noch Ihr Buch, dann ist
es genug.
Eberhard: Das kann man mir vorwerfen.
Aber John Bowlby zum Beispiel, dessen Bindungstheorie als unangreifbar gilt, wird von den
Experten oft extrem ausgelegt. Das führt dazu, dass Eltern denken, es schade
den Kindern, wenn sie früh in die Krippe kommen und mehr Stunden mit einer
Erzieherin verbringen als mit der Mutter. Ich habe noch kein Kind gesehen, dass
sich enger an die Erzieherin gebunden hätte als an die Mutter.
ZEIT: Der Däne Jesper Juul füllte in Deutschland ganze
Kongresssäle mit seinen Vorträgen über Authentizität und den
partnerschaftlichen Umgang mit dem Kind.
Eberhard: Oh, ich wünschte, das ginge
mir auch bald so!
ZEIT: Wie erklären Sie sich Juuls
Erfolg?
Eberhard: Er kam genau im richtigen
Moment und zielte direkt in dieses erzieherische Vakuum. Autoritäre Erziehung
wollte keiner mehr, Laisser-faire aber auch nicht. Auf die eigenen Eltern
wollte erst recht keiner hören, und sich nur auf die Intuition zu verlassen schien
viel zu leichtsinnig. Jesper Juul sagt sehr einfache Dinge. Manches ist klug,
anderes weniger. Sein erstes Buch Das kompetente Kind kam komplett ohne Referenzen aus. Den
Eltern war das egal. Plötzlich redeten alle davon, dass man ein Kind nicht
bestrafen dürfe, loben aber auch nicht.
ZEIT: Nicht loben?
Eberhard: Nein, und das sagt nicht
nur Juul. Wenn meine Tochter ein Bild malt und es mir zeigen will, dann darf
ich maximal sagen: Oh, ein Bild! Wie interessant! Macht es dich glücklich, ein
Bild zu malen? Das ist doch keine authentische Kommunikation, so bin ich nicht,
warum soll ich mich so verstellen? Eltern müssten sich jedes Wort gegenüber
ihrem Kind genau überlegen, bevor sie es aussprechen. Nur um das Kind nicht zu
beschämen, zu verunsichern oder unter Wettbewerbsdruck zu setzen. Das Problem
mit den Experten ist der moralische Zeigefinger. Sie sagen den Eltern, was zu
tun ist und was nicht. Eltern, die Orientierung suchen, nehmen Dogmen und
Ideologien an, die sie so schnell nicht mehr loswerden.
Eberhard
geht hart mit den Erziehungsexperten ins Gericht, obwohl er nicht sagt, dass
Eltern nichts von ihnen lernen könnten. Das Expertenwissen beruhe aber zu oft
auf eigenen Ansichten und gesundem Menschenverstand, Dinge, auf die Eltern
selbst zurückgreifen könnten. Im eigenen Zuhause, das ist ihm wichtig, muss
niemand ein Experte sein. Perfekt seien nur Eltern ohne Kinder.
ZEIT: Deutsche Eltern träumen von
Bullerbü oder Lönneberga.
Eberhard: Auch die Schweden sind noch
ganz vernarrt in Astrid Lindgrens Geschichten und all die idyllischen Bilder.
Aber überlegen Sie mal, wie diese Kinder aufgewachsen sind. Die sind den ganzen
Tag herumgestromert, ohne Überwachung, ohne Helm und Sonnenhut. Michel hat
seine kleine Schwester Ida oben an den Fahnenmast gebunden. Und Lotta aus der
Krachmacherstraße fuhr mit ihren Geschwistern auf dem Dach des VW-Käfers mit.
Das ist alles völlig undenkbar geworden. Heute würden sich Eltern gegenseitig
das Jugendamt auf den Hals hetzen. Im Kindergarten meines Sohnes müssen alle
Kinder schon beim Schlittenfahren Helme tragen!
ZEIT: Was ist so schlimm daran,
Kinder beschützen zu wollen?
Eberhard: Die Überbehütung. Wenn wir
das kompetente Kind wollen, sollte es allein zur Schule gehen dürfen. Denn im
Alter von sechs Jahren ist ein Kind dazu in der Lage, auch in einer Stadt mit
viel Verkehr. Eltern lassen das nicht zu, fordern das Kind aber gleichzeitig
auf, Entscheidungen zu treffen oder jede Frage auf Augenhöhe mit einem Erwachsenen
zu diskutieren. Viele Erwachsene handeln widersprüchlich und haben keine
Antenne dafür, was ein Kind anspornt und in seiner Entwicklung voranbringt und
was es überfordert.
ZEIT: Welche Konsequenzen hat
das?
Eberhard: Wir bereiten die Kinder
nicht gut aufs Erwachsenenleben vor, wenn wir ihnen immer vormachen, dir wird
nichts Böses geschehen, ich bin immer für dich da, du bist der Nabel der Welt.
Was ich in meiner psychiatrischen Klinik erlebe, sind junge Erwachsene, die zu
uns kommen, weil die Freundin Schluss gemacht hat, weil der Hund stirbt. Die
haben Schwierigkeiten, mit ganz normalem Kummer umzugehen.
"EiniO"
nennt Eberhard einen häufigen Befund aus seiner Praxis: "Etwas ist nicht
in Ordnung". Eltern suchten medizinische Antworten auf ihre Ratlosigkeit.
Erleichtert nähmen sie eine ADHS-Diagnose hin, weil sie damit eine Erklärung
für das Verhalten des Kindes bekämen und sich nicht weiter die Schuld geben
müssten. Eltern wunderten sich, dass ihre Kinder müde, gereizt, hyperaktiv
seien, kämen aber nicht auf die Idee, das Kind früher ins Bett zu schicken oder
dem Teenager zu verbieten, die halbe Nacht vor dem Computer zu verbringen.
Eberhard geizt nicht mit Kritik.
ZEIT: Deutschland hat sich lange
an Schweden orientiert, wenn es um Kinderbetreuung und Gleichberechtigung ging.
Nun sagen Sie: Hört endlich auf, uns zu folgen!
Eberhard: Weil wir den Bogen
überspannt haben. Wir haben die Liberalisierung nicht mehr im Griff, und das
Thema Gleichberechtigung ist zu einem gesellschaftlichen Dogma geworden. Wir
alle geben unsere Kinder mit einem Jahr in die Krippe. Dann arbeiten Mutter und
Vater möglichst gleichberechtigt, möglichst gleich viel, möglichst auf
gleichwertigen Positionen. Keiner soll hinter dem anderen zurückstehen. Arbeit
ist der einzige Weg, ein Mensch zu werden. Das bekommen wir von klein auf so
vermittelt. Elternschaft an sich ist kein Wert mehr. Eltern müssen sich sofort
erklären, wer wie lange zu Hause bleibt und wer wie viel dann wieder arbeitet.
Das
Telefon klingelt. Seine Frau ist dran. Er soll die Wäsche aufhängen. Das
Bettzeug des jüngsten Sohnes muss bis zum Abend trocknen. Er unterbricht das
Interview, um die Hausarbeit zu erledigen.
ZEIT: Was ist, wenn eine Frau
länger zu Hause bleibt?
Eberhard: Das kann sich keine Frau
mehr leisten. Die Schuldzuweisungen wären enorm. Sie wäre eine Verräterin an
ihrem Geschlecht, reaktionär und altmodisch.
ZEIT: Hen, das geschlechtsneutrale Personalpronomen, wurde jetzt offiziell
in den schwedischen Sprachschatz aufgenommen. Damit soll vermieden werden, von
einem Kind als "er" oder "sie" zu sprechen.
Eberhard: Das ist Kindesmissbrauch,
und zum Glück wird das bisher nur in wenigen
Einrichtungen praktiziert.
Diese Gleichmacherei ignoriert sämtliche biologischen Erkenntnisse über die
Entwicklung von Kindern. Wir haben ein riesiges Problem mit Jungs im
Teenageralter. Die kommen in den Schulen nicht mehr zurecht, weil sie keiner
mehr wie Jungs behandelt.
ZEIT: Sind schwedische Schulen im internationalen
Vergleich deshalb so
abgerutscht?
Eberhard: Nicht nur. Das liegt auch
an unseren Lehrern. Ihr Ansehen ist miserabel. Die Kinder sehen nicht ein, dass
sie auf ihre Lehrer hören sollen, wenn sie auch auf ihre Eltern nicht hören
müssen. Die Folge sind sinkende Leistungen. Die schwedischen Schüler sind laut
Pisa-Studie Spitzenreiter im Schuleschwänzen, Beschimpfen von Lehrern und in
Vandalismus. Und nicht zu vergessen: in Sachen Selbstbewusstsein!
ZEIT: Typisch für Kinder, die
immer im Zentrum der Fürsorge und Aufmerksamkeit standen.
Eberhard: Ja, und diese
"Mittelpunkt der Welt"-Kinder werden dann groß und landen zum
Beispiel in der schwedischen Fernsehshow Idol. Dort suchen sie Gesangstalente, den
Superstar von morgen. Da gehen manche hin und können überhaupt nicht singen.
Das wissen sie aber nicht. Die Jury fällt aus allen Wolken und sagt: Hat dir
denn nie jemand gesagt, dass du nicht singen kannst?
ZEIT: Ihre Eltern waren zu feige?
Eberhard: Die wollten das arme Kind
nicht traumatisieren. Aber so ziehen wir freche Rotzlöffel heran, die ein
völlig falsches Bild von ihren eigenen Fähigkeiten mit auf den Weg bekommen.
Sich nur auf das Kind zu fokussieren ist eben doch nicht die beste
Erziehungsmethode der Welt. Wäre sie das, würden unsere Kinder uns mehr lieben
als irgendwo sonst. Aber das ist nicht so. Sobald wir alt und gebrechlich sind,
stecken sie uns ins Pflegeheim. In anderen Ländern halten die Familien zusammen,
da sind die Eltern auch im Alter noch etwas wert.
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