Liessmann: "Herkunft spielt eine Rolle", Bild: Die Presse
Liessmann über Bildungsillusionen, Die Presse, 27.3. von Konrad Paul Liessmann
Die Schlagworte Individualisierung und Inklusion
haben mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen. Es scheint,
als solle das Bildungssystem das schlechte Gewissen der Erwachsenenwelt
auffangen.
27.03.2015 | 20:08 | Von KONRAD PAUL
LIESSMANN (Die Presse)
Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte
aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen
in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind
stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die
gleichen Chancen gelten, und niemand darf zurückbleiben.
Was kann die Schule leisten?
Individualisierung und Inklusion sind deshalb die
zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten
angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben. Wer gegen
Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort
verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen
beschneiden zu wollen.
Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand
aussetzen. Dass die rezenten Schulsysteme Bildungsprivilegien verstärken, der
„Vererbbarkeit“ von Bildung wenig bis nichts entgegensetzen und Kinder aus den
sogenannten „bildungsfernen“ Schichten dadurch systematisch benachteiligt und
ausgegrenzt werden, gehört zu den Grundüberzeugungen modernen Bildungsdenkens.
Dass es einmal Aufgabe von Schulen gewesen war, eine – im Idealfall an den
kognitiven Leistungen des Einzelnen orientierte – soziale Selektion
vorzunehmen, kann nur als Relikt einer finsteren Epoche gewertet werden.
Dass Bildungsinitiativen sich dann auch Namen wie
„Bildung grenzenlos“ oder „Jedes Kind“ geben, ist nicht nur Programm, sondern
auch unmittelbare Kritik an jenem System, das eben nicht grenzenlosen Zugang
zur Bildung gewährt und eben nicht jedem Kind die ihm zustehenden Chancen
eröffnet. Dass in diesem Zusammenhang immer wieder von einer notwendigen
„Bildungsrevolution“ gesprochen wird, zuletzt im Bildungspapier der österreichischen
Industriellenvereinigung, vervollständigt dieses Bild.
Allgemein verbindliche Standards?
Das Prinzip „Jeder (lernt) nach seinen Fähigkeiten,
jedem (werden die Angebote) nach seinen Bedürfnissen (maßgeschneidert)“ scheint
im Hintergrund dieser Haltung zu wirken, ja, es scheint genau das zu
beschreiben, was für eine „inklusive“ Schule gefordert wird.
Die Orientierung an den besonderen Fähigkeiten der
Schüler, die Entdeckung und Pflege ihrer besonderen Talente und Begabungen, die
Berücksichtigung ihrer Beeinträchtigungen und Abneigungen tritt an die Stelle
der Vorstellung, dass Unterricht wesentlich damit zu tun haben könnte,
bestimmte Formen und Inhalte des Wissens als verbindliche Ziele zu beschreiben,
die unabhängig von individuellen Neigungen angestrebt werden sollten.
Lernangebote müssen deshalb individuell
zugeschnitten werden, die Vermittlung von Wissen, Kenntnissen und Können
orientiert sich nicht mehr an der Sache, am Gegenstand, an einem Fach, an einem
Thema, Text oder Problem, sondern an den Befindlichkeiten und Möglichkeiten des
Einzelnen.
Konsequent zu Ende gedacht bedeutete dies, dass
Abschlussbescheinigungen wie etwa Reifeprüfungszeugnisse nicht mehr für den
Nachweis vergeben werden, dass allgemein verbindliche Standards erreicht worden
sind, sondern dafür, dass jedes Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten und seiner
Interessen sich einigermaßen entfalten konnte.
Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen: Diese Formel entsprang allerdings nicht der bildungspolitischen
Diskussion der Gegenwart, sondern stammt von Karl Marx, der mit dieser
griffigen Parole das Grundprinzip der entwickelten kommunistischen Gesellschaft
beschrieb, in der die „Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums“ nur so
sprudeln.
Marx wusste noch, dass die uneingeschränkte
Entfaltung von Individualität einer materiellen Basis bedarf, die es erlaubt,
die Lebenschancen des Einzelnen gerade nicht davon abhängig zu machen, ob er
sich durch eine Kette von Ausbildungen und Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt
gegen eine mitunter übermächtige Konkurrenz wird behaupten können.
Ein Trojanisches Pferd
Nun mag ja, auch nach 1989, noch das eine oder
andere für den Kommunismus sprechen, und in manchen reformpädagogischen
Konzepten mögen bewusst oder unbewusst altlinke Ideen noch immer eine Rolle
spielen, dass aber auch Parteien wie die Neos oder Verbände wie die
Industriellenvereinigung Vertreter dieser Ideologie sein sollten, wäre doch
eher neu.
Es muss deshalb die Frage erlaubt sein, warum das
Prinzip des Kommunismus für Kindergärten, Volks- und Gesamtschulen bis zur
„mittleren Reife“, vielleicht sogar bis zur Matura, gültig sein darf, dann aber
offenbar abgelöst werden sollte durch die Gesetze des Marktes und des
Wettbewerbs.
Plausibel wäre in diesem Zusammenhang doch
höchstens die Vorstellung, dass die Kinder und jungen Menschen, die mit dieser
kommunistischen Pädagogik aufgewachsen sind, später auch die Gesellschaft in
diesem Sinne umgestalten werden. Die geforderte „Revolution“ des Schulsystems
stünde dann gleichsam an Stelle der gesellschaftlichen Revolution, wäre das
Trojanische Pferd, das den Boden für eine andere Gesellschaft bereiten sollte.
Ob das die Neos und die Industriellenvereinigung wirklich wollen?
Eine andere Erklärung wäre die These, dass eine
kommunistische Erziehung die beste Voraussetzung für das Leben im Kapitalismus
sein könnte. Das wäre durchaus originell, aber zumindest für jene
erklärungsbedürftig, die davon ausgehen, dass man mit Konkurrenzdenken und Steigerung
der Wettbewerbsfähigkeit nicht früh genug beginnen kann.
Bertolt Brecht immerhin, der dem Kommunismus ja
nicht ganz abhold gewesen war, ging noch davon aus, dass der Schüler im
Unterricht die Erfahrung von „Rohheit, Bosheit und Ungerechtigkeit“ machen
können muss, um im Kapitalismus überleben zu können. Eine Schule, die die
Kinder „gerecht und verständig“ behandelte, würde diese „unerzogen, ungerüstet,
hilflos“ einer Gesellschaft ausliefern, in der sie „Fair Play, Wohlwollen,
Interesse“ gerade nicht erwarten dürfen. Das mag ironisch gewesen sein, hatte
aber den Vorzug der Deutlichkeit.
Herkunft spielt eine Rolle
Dass Bildung deshalb das Instrumentarium wäre, die
sozialen Differenzen auszugleichen und die Voraussetzungen für eine gerechtere
Gesellschaft zu schaffen, könnte auch eine Selbsttäuschung sein. Dass Bildung
keine Herkunft kennen darf, ist ein Wunsch, von dem nicht einmal zu sagen wäre,
ob es ein frommer Wunsch ist.
Denn Bildung in einem unverkürzten Sinn lebt
wesentlich von der Vergangenheit, vom Wissen, den Technologien, den
Kunstwerken, den Religionen und Weltanschauungen, den Literaturen, die von
Menschen hervorgebracht wurden und auf denen Menschen aufbauen und an denen sie
weiterarbeiten können.
Diese Errungenschaften waren und sind aber nicht
gleichmäßig über alle verteilt, und natürlich spielt dafür die Herkunft eine
Rolle. Es überrascht ja überhaupt, wie sehr Menschen, die an anderer Stelle das
Erbrecht mit Klauen und Zähnen verteidigen, sich über die Tatsache, dass auch
die Disposition für Bildungserfahrungen „vererbt“ werden, empören können.
Dass die realen materiellen Lebensgrundlagen wie
Besitz, Vermögen und Geld vererbt werden, ist für viele offenbar moralisch
weniger anrüchig als die Vermutung, dass es noch immer Eltern gibt, die mit
ihren Kindern lesen oder in ein Konzert gehen und diese dadurch eine andere
Einstellung zur Kultur entwickeln als jene, denen solche Erfahrungen verwehrt
bleiben.
Auch hier hat man den Eindruck, dass das
Bildungssystem das schlechte Gewissen der Erwachsenenwelt auffangen soll – so,
als würde die Vererbbarkeit von materiellem Vermögen keine Rolle mehr spielen,
gelänge es nur, die Vererbbarkeit von Bildung aufzuheben, und sei es nur in dem
Sinne, dass kein Kind mehr mitbekommen darf, als Kindergärten und Schulen
anzubieten haben.
Manche mögen das für gerecht halten – mit der Idee von Bildung hätte es
kaum noch etwas zu tun.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen