Ist das neue Zürcher Mathe-Lehrmittel für schwächere Schülerinnen und Schüler geeignet? Mathematik-Lehrkräfte der Sekundarschule Stettbach, Februar 2015
Seit dem Sommer 2011
ist im Kanton Zürich auf der Oberstufe ein neues Mathematik-Lehrmittel (M-Lm)
eingeführt. Unterdessen sind alle Klassen des Kantons mit ihm ausgerüstet.
Didaktik und Ziele des neuen M-Lm Gemäss Eigendeklaration
• soll Mathematik
„einen Beitrag zur Lebensbewältigung leisten.“
• ist es „Ein
Lehrmittel für alle Anforderungsstufen“.
• soll „Kognitives
Verstehen aus aktivem Tun“ entstehen.
• garantiert es
„Praxistauglichkeit durch Übersichtlichkeit und Vollständigkeit“.
• ist Geometrie im
neuen Mathe-Lm integriert.
Vorzüge des neuen Lehrmittels
Es versucht,
mathematisches Wissen durch Handeln erfahrbar zu machen. Dies ist ihm hoch
anzurechnen. Viele Bezüge zur realen Welt werden thematisiert. Durch die
gleiche Struktur in allen Anforderungsstufen ist es (zumindest theoretisch)
sehr durchlässig. Es ist klar strukturiert, sodass die Orientierung leicht
fällt.
LP 21 und neues Mathe-Lm
Das neue Werk ist
gemäss Eigendeklaration „LP21 kompatibel“. Viele von uns arbeiten mit dem neuen
Lm seit seiner Einführung im Sommer 2011. Die anfängliche Begeisterung fürs Lm
ist bald Ernüchterung gewichen. Aufgrund unserer Erfahrungen fragen wir uns
grundsätzlich:
Ist dieses Lm für den Unterricht mit schwächeren
Schülerinnen und Schülern geeignet?
Die folgenden
Ausführungen mögen Anstösse geben zu einer Antwort. Welches sind die
gravierendsten Schwächen und Mängel des neuen M-Lm? Sie lassen sich kurz gesagt
in 3 Stichworten zusammenfassen: Zu viel; von Beginn weg zu anspruchsvoll; in
zu kurzer Zeit. Folgende Beispiele verdeutlichen dies:
1. Zu viel
Die 3 Lehrmittel sind
pro Schuljahr in 9 Hauptkapitel unterteilt, diese wiederum in ca. 3
Unterkapitel. So geht es im fast Wochenrhythmus von Thema zu Thema. Für die
Aneignung und Beschäftigung mit den einzelnen Themen bleibt wenig Zeit. Viel zu
schnell geht der Unterricht weiter! Fragen bleiben unbeantwortet, Lücken können
(fast) nicht mehr geschlossen werden und das Gefühl verbreitet sich bei vielen
Lernenden, dass sie eigentlich nicht wichtig sind. Viele Jugendliche hängen ab,
weil sie spüren, ihre Lücken sind so gross, dass sie „eh keine Chance“ haben,
das Verpasste aufzuholen. Nicht gerade motivierend.
Die viel zu grosse
Fülle an Inhalten zwingt zu Oberflächlichkeit. Vertieftes Üben und Verstehen
bleiben auf der Strecke. Dies zeigt sich zum Beispiel dann, wenn Schüler
komplexe Berechnungen anstellen sollten, diese aber unmöglich ausführen können,
da sie über die Grundlagen dazu nicht verfügen. Aber lassen wir das Lehrmittel
selber reden:
„Das Lehrmittel soll den Jugendlichen, ihren
individuellen Fähigkeiten entsprechend, vollständige Lernprozesse ermöglichen
und so zu nachhaltigem Lernen führen.“ (Handbuch 1, S. 8)
Seinen eigenen Vorgaben
zum Trotz rast das Lm aber weiter, egal ob das Lernen „nachhaltig“ war oder
nicht. Bereits im ersten Jahr der Oberstufe ist dies so - und es wirkt sich
verheerend aus. Denn „Die einzelnen Kapitel bauen auf den vorangehenden auf.“
(Handbuch 1, S. 8) Je länger der Unterricht dauert, desto mehr stützt sich das
Lehrmittel auf Wissen und Können, welches bei einem Grossteil der Jugendlichen
nicht vorhanden ist. Wie auch? Es ist alles viel zu schnell gegangen! Und die
Zahl der überforderten SuS wird laufend grösser. So werden Unterrichten und
Lernen zum Bauen auf Sand. Damit nicht genug. Das neue MLm ist schon
2. Von Beginn weg zu anspruchsvoll
Viele Schülerinnen
und Schüler treten in die Oberstufe ein mit mathematisch ungenügendem Wissen
und Können. Das ist nichts Neues. Neu ist: Die Lernstandserhebungen des Kantons
Zürich haben dieses Erfahrungswissen vieler Oberstufenlehrpersonen
wissenschaftlich erhärtet. Die betreffende Studie hat die Mathe- und
Deutschleistungen von rund 2000 SuS im Abstand von je 3 Jahren gemessen. Mit
folgendem Resultat für den Eintritt in die Oberstufe (Homepage der
Bildungsdirektion):
18 Prozent der SuS erreicht am Ende der 6. Klasse die
Lehrplanziele in Mathematik nicht. (1)
Mit anderen Worten:
Fast jedes fünfte Kind, welches in die Oberstufe wechselt, hat massive Lücken
im Mathe-Stoff aus der Primarschule! Jetzt bestünde die Hoffnung, dass ein
Lehrmittel, welches sich als „vollwertiges Lehrwerk für jede Anforderungsstufe“
bezeichnet - dass also ein solches Lm dies berücksichtigen würde. Leider bleibt
es bei der Hoffnung. Die Geschwindigkeit und die Stofffülle, mit welcher es
über die Köpfe der schwächeren SuS hinweg rast, hat etwas Erbarmungsloses.
Überforderung für alle Beteiligten.
3. In zu kurzer Zeit
Das Lm gibt den
Lehrpersonen und damit auch den Jugendlichen einen Fahrplan vor, bis wann genau
im Schuljahr welcher Stoff durchgearbeitet sein sollte. Das ist zu begrüssen.
Doch bereits nach wenigen Monaten realisieren viele LP, besonders von B und C
Klassen, dass dieser Fahrplan freundlich ausgedrückt sehr eng ist. So sollen
z.B. folgende Themen in der 7. Klasse in
2 (!) Wochen durch alle SuS gelernt werden: Potenzen; Operatorbegriff;
Punkt-vor-Strich-Regel; Klammerregeln; mathematische Grundbegriffe;
Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetz; grosse Zahlen wie Billion,
Billiarde, Trillion und ihre Exponentialschreibweise; Kilo, Mega, Giga, Tera.
Wie gesagt, das alles in 2 Wochen, Lernkontrolle inbegriffen.... Haben die
Autoren ihre eigenen Vorgaben vergessen? Sie selbst schreiben nämlich:
„Damit Schülerinnen und Schüler das neue Wissen
erfolgreich anwenden können, muss ihnen genügend Gelegenheit geboten werden, es
sinnvoll einzuüben.“ (Handbuch 1, S. 12)
Wer nun als Lehrer
oder Lehrerin Stoff weglässt, um die Lernprozesse „nachhaltiger“ zu gestalten,
kommt bald in einen Teufelskreis: da das Lm spiralartig aufgebaut ist, wird die
Kluft zwischen dem, was von den Schülern verlangt wird, und dem, was sie
können, nochmals grösser. Und das beginnt schon im allerersten Semester. Noch
ein Beispiel?
Ebenfalls 2 Wochen Zeit haben gemäss Lm alle SuS der
7. Klasse für folgende Inhalte: Repetition aller
Längen-, Hohl- und Gewichtsmasse; Umrechnen dieser Masse; Zeitmasse und
Zeitdauer berechnen; Rundungsregeln; Einführung Prozentrechnen; Prozentrechnen
und Brüche.
Kurze Würdigung
Es bleibt der
Eindruck, dass das Lehrmittel von Autorinnen und Autoren geschaffen wurde,
welche wenig Kontakt haben zu den Realitäten des Matheunterrichts an der
Oberstufe. Zwar ist es erfreulich, dass die Zürcher Bildungsdirektion das
Wissen und Können der Primarschulkinder wissenschaftlich erheben lässt. Die
Erkenntnisse daraus sollten aber bei der Schöpfung neuer Lehrmittel
berücksichtigt werden. Es kann nicht sein, dass man die Bedürfnisse von 20 %
aller SuS schlicht „vergisst“. Unserer Einschätzung nach muss das Lehrmittel
dringend überarbeitet werden. In seiner jetzigen Form ist es vor allem für den
Unterricht mit schwächeren SuS wenig hilfreich.
(1) Nach sechs Jahren
Primarschule, Bildungsplanung des Kantons Zürich, S. 38, U. Moser u.a.
Februar 2015
Die
Mathematik-Lehrerinnen und Lehrer des Schulhauses Stettbach in Zürich
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