Rassismus, Religion, Sexualität: Wie sollen Tabuthemen an PH behandelt werden? Bild: Orlando Hoetzel
Nicht alle sehen die Welt gleich rund, NZZ, 6.10. von Anna Rosenwasser
Manche Lehrpersonen gestalten ihren Unterricht aus
politischer Sicht zu einseitig, findet die Junge SVP. Deshalb hat die Partei
Anfang September das Schulprojekt «Freie Schule» lanciert, eine Plattform, auf
der unter anderem Schülerinnen und Schüler sich über die geäusserten Haltungen
ihrer Lehrpersonen beschweren können. Kategorien tragen Titel wie
«Verunglimpfung von Personen oder Parteien», «Benachteiligung Andersdenkender»
und «Politische Indoktrination». Die Idee einer solchen Beschwerde-Plattform
ist neu - die Angst, Lehrpersonen könnten mit ihren Werthaltungen den Nachwuchs
schädlich beeinflussen, besteht schon lange. Dürfen Menschen in Lehrsituationen
ihre persönliche Meinung kundtun? Welche Regeln sollen für die Menschen gelten,
die anderen von Berufs wegen die Welt erklären?
Nicht festgeschrieben
Diese Fragen werden heutzutage schon am Anfang der
Lehrerausbildung in den pädagogischen Hochschulen thematisiert. Erwin Beck,
Rektor der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, sieht eine Entwicklung zu mehr
Offenheit. «Früher gab es klare Ansichten, welche politischen Haltungen in der
Lehrerbildung vertreten werden müssen», sagt Beck. Zur Vorbildfunktion von
Lehrern etwa gehörte die militärische Ausbildung - eine Voraussetzung, die
heute so nicht mehr zutrifft.
In den Leitbildern von pädagogischen Hochschulen
(PH) wird deutlich: Das Recht, eine eigene Meinung und Identität zu vertreten,
wird hochgehalten. Wie weit die Meinungsäusserung der Dozierenden gehen darf,
ist aber meist nicht genauer schriftlich festgehalten. An der PH Graubünden
beispielsweise gibt es einen Wertekodex: Das Schulgesetz gibt dazu die
Richtlinien vor, die Hochschule selbst definiert in dem Papier aber keine
Tabuthemen und Konsequenzen. Die einzige Handlungsrichtlinie lautet, dass die
Diskussionen dem Unterricht dienen sollen. «Falls tatsächlich extreme Meinungen
vertreten werden, müsste grundsätzlich die Berufseignung überprüft werden»,
sagt Gian-Paolo Curcio, Rektor der PH Graubünden.
«Bei rassistischen Aussagen gibt es nichts zu
diskutieren», meint Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte und Prorektor
Lehre an der Universität Luzern. «Sobald eine Position jemand anderen in
Mitleidenschaft zieht, ist es nicht mehr tolerierbar.» Tabu sind für Ries auch
Aufrufe zu Demonstrationen aller Art. Die Religionszugehörigkeit einer Lehrperson
hingegen müsse nicht thematisiert werden, könne aber bei Bedarf Erwähnung
finden, «etwa bei Begründungen zu ethisch und emotional sensiblen Themen wie
Schwangerschaftsabbruch».
Dass die Religion durchaus die Werthaltungen von
Lehrpersonen beeinflussen kann, hat Lilo Lätzsch, Präsidentin des Zürcher
Lehrerinnen- und Lehrerverbands, schon öfters erlebt. «Zweimal kam es vor, dass
Schülerinnen und Schüler es meldeten, dass eine sehr christliche Lehrperson
Homosexualität als falsch ansah und das sagte.» Lätzsch vertraut auf die
Schülerschaft, sobald diese aus dem leicht beeinflussbaren Kindesalter
herausgewachsen ist - und auf die moderne Technik: «Die Schülerinnen und
Schüler googeln und decken die Hintergründe für solche Haltungen rasch auf.»
Persönlich äussern, aber . . .
Google hin oder her: Das Thema Sexualität im
schulischen Kontext bleibt heikel. «Es ist ein grosser Unterschied, ob
Sexualität von einem PH-Dozenten auf der Metaebene thematisiert wird oder eine
Lehrperson direkt in der Klasse das Thema bringt», erklärt Lukas Geiser, der
Sexualpädagogik an der PH Zürich unterrichtet. «Als Dozent kann ich mich zu
einem Thema persönlich äussern, um die Studierenden dann zu fragen: Was macht
das mit euch? Es geht um die reflektierte Auseinandersetzung auf einer
Metaebene», erläutert Geiser. Und doch gebe es Werte, die die pädagogische
Hochschule den Studierenden direkt übertragen will; «etwa die Haltung, dass
sexuelle Gewalt in keiner Weise akzeptiert wird», führt der
Sexualpädagogik-Dozent als Beispiel an.
Während die Junge SVP das Problem bei den
politischen Ansichten der Lehrpersonen sieht, stehen pädagogische Hochschulen
eher bei religiösen Angelegenheiten vor einer Herausforderung: Der persönliche
Glaube kann zu heiklen Haltungen führen, etwa bei den Themen Abtreibung oder
Homosexualität. Beck von der PH St. Gallen schildert: «Die Diversity spielt
eine zunehmende Rolle. Wir respektieren die Vielfalt und Unterschiedlichkeit -
solange sie nicht die Freiheit eines anderen einschränkt.» Kämen dogmatische Haltungen
seitens Dozierender zum Ausdruck, liessen Reaktionen der Studierenden nicht auf
sich warten, ist Beck sich sicher. «Die Dozierenden sollen eigene Meinungen
äussern dürfen, solange sie sie klar begründen können. Es braucht den Diskurs,
und der darf auch irritieren.»
Eigene Haltung muss sein
Irritierende Diskurse als Ansporn zur Diskussion:
So sieht es auch Martin Gatti, Präsident des Berufsverbands der Lehrerinnen und
Lehrer im Kanton Bern. Kapitalismuskritik im Geschichtsunterricht? «Eine
kritische Würdigung liegt absolut drin.» Mögliche Atomkraftwerk-Szenarien?
«Eine Diskussion der Gefahren sollte zugelassen werden.» Abtreibung als Mord
bezeichnen? «Denkbar an einer stark christlich geprägten Schule. An einer
öffentlichen: nein, danke. Diskussionen über das Thema: unbedingt», findet
Gatti.
«Man kann nicht unterrichten, ohne einen Teil
seiner Persönlichkeit und Haltung einzubringen», formuliert es Lätzsch. Die
Lehrerinnen und Lehrer mögen in ihren politischen, religiösen und ethischen
Ansichten nicht übereinstimmen, aber dass die Meinung im Unterricht reflektiert
geäussert werden darf - und sogar soll -, darin sind sie sich alle einig.
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