Lauter falsche Versprechen zum Fremdsprachenunterricht, Bild: iStock
So lernen Kinder weder Französisch noch Englisch, Tages Anzeiger, 6.10. von Remo Largo
Seit einigen Monaten erleben wir eine erbitterte Debatte über den
Fremdsprachenunterricht in den Primarschulen. Der
Zusammenhalt der Schweiz scheint auf dem Spiel zu stehen. Beim Frühfranzösisch
hat die politische Auseinandersetzung zu einem regionalpolitischen Taktieren
geführt. Beim Frühenglisch geht die Angst um, in einer globalisierten
Wirtschaft nicht mehr mithalten zu können.
Es ist eine Auseinandersetzung unter Erwachsenen, Politikern, Lehrern,
Eltern. Und die Erwachsenen tun so, als ob sie über die Kinder frei verfügen
könnten und – vor allem – als ob die Kinder beliebig lern- und anpassungsfähig
wären. Sind sie aber nicht. Die Sache ist komplizierter.
Eigentliche Lerngenies
Eine Familie zieht von Genf nach Zürich. Die 5-jährige Tochter tritt in
den Kindergarten ein, und ein Jahr später spricht sie perfekt Schweizerdeutsch.
Das Beispiel zeigt: Kleine Kinder sind eigentliche Lerngenies.
Sie erbringen in den ersten Lebensjahren eine Leistung, zu der kein
Erwachsener fähig wäre. Sie können sich jede beliebige Sprache aneignen.
Zwischen dem 2. und dem 5. Lebensjahr erwerben die Kinder jeden Tag
mehrere neue Worte. Als 2-Jährige bilden sie Zweiwortsätze, mit 3 bis
4 Jahren Mehr-Wort-Sätze. Im Alter von 5 Jahren können sich die meisten
Kinder in vollständigen Sätzen ausdrücken. Ihr Wortschatz umfasst dann etwa
4000 Wörter.
Diese enorme Leistung ist nur möglich, weil die Kinder mit einer Begabung
zum Spracherwerb auf die Welt kommen. Sie sind fähig, unbewusst die
Gesetzmässigkeiten einer Sprache, wie Satzstellung oder Grammatik zu erfassen.
Der höchst anspruchsvolle Prozess des Spracherwerbs kann jedoch nur
gelingen, wenn die Kinder ausgedehnte Erfahrungen in einem ständigen
sprachlichen Austausch mit Eltern, mit anderen Bezugspersonen und vor allem mit
Kindern machen können.
Sprache in den Alltag einbetten
Dabei genügt es nicht, Sprache nur zu hören. Die Kinder müssen Sprache
konkret erleben. Nur wenn die Kinder das Gehörte mit Personen und Gegenständen,
Handlungen und Situationen verbinden können, lernen sie, Sprache zu verstehen
und zu sprechen. Die Sprache muss also in den Alltag der Kinder
eingebettet sein. Im Gegensatz zu den Erwachsenen lernen die meisten Kinder –
mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – auch eine Zweit- oder
Drittsprache. Diese Art, eine Sprache ganzheitlich zu erlernen, wird als
synthetischer Spracherwerb bezeichnet. Sie ist in den ersten Lebensjahren am
stärksten und nimmt im Verlaufe der Schulzeit ab. Sie erschöpft sich im
Pubertätsalter weitgehend.
Kinder wären also durchaus fähig, in der Schule eine
Fremdsprache zu erlernen, jedoch nur unter entwicklungsgerechten Bedingungen.
Das sogenannte Immersionslernen, wie es zum Beispiel in Australien, Kanada und
Finnland angewandt wird, ist dem natürlichen Spracherwerb nachempfunden. Es
orientiert sich an folgenden Grundsätzen:
·
Die Fremdsprache kommt im gesamten Alltag konsequent zum Einsatz.
·
Eine Person spricht lediglich eine Sprache.
·
Das Immersionslernen beginnt früh (möglichst mit 3 Jahren), ist von
hoher Intensität (täglich über mehrere Stunden) und von langer Dauer (über die
gesamte Kindertagesstätten- und Grundschulzeit).
Die Kinder machen vielfältige sprachliche Erfahrungen. Dazu gehört, dass
alle Sinne angesprochen und emotionale Elemente mit einbezogen werden. In
Südtirol werden die Kinder nach diesen Grundsätzen vom Kindergarten bis in die
Oberstufe unterrichtet. Sie wachsen so perfekt zweisprachig auf. Neben Deutsch
und Italienisch sprechen viele auch noch Ladinisch.
Lauter falsche Versprechen
Der Englisch- und der Französisch-light-Unterricht – beide wurden in der
Schweiz in den Primarschulen eingeführt – konnten die Erwartungen, welche die Bildungspolitikergeweckt
hatten, nie erfüllen. Berücksichtigt man die Kriterien für einen erfolgreichen
Sprachunterricht, war ein Scheitern unvermeidlich. Da ein Wort, dort ein Reim,
hier ein Lied auf Englisch oder Französisch mag für die Kinder unterhaltend und
anregend sein, sprachkompetent werden sie dabei nicht. Dieser pädagogische
Ansatz ist pseudosynthetisch – und falsch. Es sind im Unterricht zudem viel zu
wenige Wochenstunden vorgesehen.
Nun gibt es eine weitere Art des Spracherwerbs, die analytische. Die
meisten Jugendlichen und Erwachsenen können eine Sprache nur durch
Auswendiglernen der Wörter und der formalen Elemente lernen. Die
Sprachkompetenz ist begrenzt und charakteristisch mit einem Akzent behaftet.
Diese Form von Unterricht ist uns aus der Oberstufe wohlvertraut. Bis zum Alter
von 10 bis 12 Jahren sind Grammatik- und Syntaxregeln für Kinder – auch in der
deutschen Sprache – ein Buch mit sieben Siegeln. Erst mit dem Auftreten des
abstrakten Denkens nimmt das bewusste Verständnis für die Gesetzmässigkeiten
der Sprache zu. Damit setzt die Fähigkeit zum analytischen Spracherwerb ein.
Kindern auf der Primarstufe eine Sprache analytisch beibringen zu
wollen, ist ein pädagogischer Sündenfall. Die Kinder, die an sich so
sprachbegabt sind, werden durch die falsche Methodik überfordert und machen
eine sehr negative Lernerfahrung. Es ist höchste Zeit für ein Eingeständnis:
Wir haben in den letzten zehn Jahren einen kostspieligen und nicht
kindgerechten pädagogischen Irrweg eingeschlagen.
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