16. Oktober 2014

"Ökonomistische Schielerei auf Rankingplätze"

Mit Pisa und anderen sogenannten Qualitätsstudien ruiniert die OECD weltweit historisch gewachsene Bildungssysteme. Dahinter steht ein höchst fragwürdiges Menschenbild, schreibt Beat Kissling.



Wie weit ist Pisa mit unserer Demokratie vereinbar? Bild: Marcel Stahn

Das grosse Zerstörungswerk der OECD, Wirtschaftswoche, 13.10. von Beat Kissling


  Seit 14 Jahren haben sich viele europäische Staaten von der OECD in die sogenannten Pisa-Studien einbinden lassen. Sie produzieren alle drei Jahre Ranglisten der getesteten Schüler beziehungsweise der Länder, in denen sie unterrichtet werden. Weltweit hat sich die Zahl der mitmachenden Staaten innerhalb weniger Jahre mehr als verdoppelt, Tendenz rasch steigend.
Die Wirtschaftsorganisation etabliert sich somit global als alleiniger Schiedsrichter für die Beurteilung nationaler Bildungssysteme. Doch mit welcher Legitimation? Es ist schwer nachzuvollziehen, wieso Länder mit gänzlich unterschiedlichen Bildungstraditionen und -systemen sich auf diesen uniformierenden, angelsächsisch orientierten Test- und Rankingfetischismus haben ‚einspuren’ lassen, der dem europäischen Bildungsverständnis vor 2000 gänzlich fremd war. Viele Länder mit ausgezeichnet funktionierenden Bildungssystemen, zum Beispiel die Schweiz, taten das ohne jegliche Notwendigkeit.
Am 5. September lieferte die GEMS Education im Auftrag der OECD ein „Education efficiency ranking“ mit 30 beteiligten Staaten. GEMS Education ist nach eigenen Angaben der weltweit führende private Bildungskonzern und Spitzenreiter bei der internationalen Bildungsentwicklung sowie -reform. Das Unternehmen steht in enger Verbindung mit dem World Economic Forum, Microsoft, Stiftungen wie der Clinton Global Initiative oder Tony Blairs Faith Foundation und nun auch mit der UNESCO.
Die aktuell erstellte Effizienz-Rangliste gründet auf der berechneten Relation zwischen finanziellen Ausgaben der verschiedenen nationalen Bildungssysteme (konkret der durchschnittlichen Lehrerlöhne sowie Klassengrößen) und ihrer letzten PISA-Testresultate. Vier Tage später, also am 9. September, schob die OECD ihren jährlichen Bericht „Education at a Glance“ nach, der wiederum sämtliche beteiligte Staaten mit zahllosen Tabellen und Zahlen zueinander in Konkurrenz setzte. Es geht da um Abschlussquoten auf den verschiedenen Schulstufen, Entwicklungen der Erwerbslosenquoten, Verhältnis von Berufsbildungsabsolventen zu erfolgreichen Studienabgängern, öffentliche Vorschul-Bildungseinrichtungen und so weiter.
Wie immer wurden diese Offenbarungen der OECD von der Politik der beteiligten Länder nervös erwartet und je nach dem Abschneiden des eigenen Landes erleichtert oder schamvoll entgegengenommen. Parteiprogramme werden daraufhin modifiziert oder akzentuiert, alles je nach Opportunität.

Europäische Bildungstradition wird gebremst
Seltsamerweise schwiegen bisher die Menschen, die sich schon lange die Frage stellen, welche Relevanz diese US-mentorierte, kulturentleerte, technokratische Datenklauberei und ökonomistische Schielerei auf Rankingplätze für eine geistesgeschichtlich und rechtsstaatlich verankerte traditionsreiche europäische Bildungstradition haben soll. Die zeichnet sich schließlich eben nicht durch Uniformität, sondern durch gewachsene Vielfalt aus.
Endlich durchbrach nun am 6. Mai 2014 in der englischen Tageszeitung The Guardian ein ‚offener Brief’ an den OECD-Verantwortlichen für Pisa, Andreas Schleicher, mit dem Titel „OECD and Pisa tests are damaging education worldwide“ das unwürdige Schweigen - unterschrieben von über 150 Universitätsdozenten aus aller Welt.
Die deutsche Version wurde inzwischen von rund 3000 in der Bildungengagierten Personen unterzeichnet. Verfasst wurde der Brief von Heinz-Dieter Meyer, Professor an der State University of New York und Katie Zahedi, Schulleiterin in New York. Zu den zentralen Anliegen gehört die Veranschaulichung der enormen Verengung und Verarmung der Bildung durch eine uniforme, standardisierte Testkultur (Pisa).

Um alle an denselben OECD-Standards messen zu können, so schreiben sie, ignoriere man historisch gewachsene und kulturell verwobene Besonderheiten unterschiedlicher staatlicher Bildungswesen. Somit werde in Kauf genommen, dass die identitätsstiftende und persönlichkeitsbildende Aufgabe der öffentlichen Schulen in einem Land zugunsten der OECD-Standards banalisiert wird.
Was den konkreten Unterricht betrifft, sehen Meyer und Zahedi zudem die Autonomie der Lehrer stark beeinträchtigt, zumal mit Pisa zwangsläufig schulisches Lernen ins „Teaching to the Test“ abgleitet. Nicht quantifizierbare, kulturell und politisch aber kostbare Bildungsziele jeder Demokratie wie eigenständiges Denken und verantwortungsvolles Handelns verlören an Bedeutung, ebenso die künstlerisch-musische Bildung.
Dies überrascht nicht, zumal die OECD als internationale Wirtschaftsorganisation zwangsläufig ökonomischen Aspekten der Schule Priorität einräumt. Das zeigt sich laut Meyer und Zahedi darin, dass Psychometriker, Statistiker und Ökonomen bei der OECD maßgebender sind als Lehrer, Eltern, Erziehungswissenschaftler und Fachverbände. Besonders kritisieren die Autoren auch die Tatsache, dass die OECD intransparente Allianzen mit profitorientierten multinationalen Unternehmen unterhält, für die Bildung ein einträglicher internationaler Markt darstellt.
Schließlich erinnern sie auch daran, dass der OECD ein legitimes Mandat fehlt, das ihr erlaube, sich zur normgebenden weltweiten Bildungsautorität zu erklären. Sie fordern schließlich eine Besinnungspause für PISA, um eine längst fällige öffentliche Debatte in den Staaten endlich in Gang zu bringen.
Die Wurzeln im Kalten Krieg
Viele Argumente in diesem Brief gehen auf eine internationale Konferenz von Erziehungswissenschaftlern an der State University of New York zurück, bei der die Rolle der OECD eines der Kernthemen war - insbesondere deren gezielte Einflussnahme auf Bildungssysteme souveräner Staaten durch Pisa. Diesen Zugriff fädelte die OECD in den 1990er ein, als die Organisation mit Ende des Kalten Krieges ihre strategischen Ziele auf die Governance (also überstaatliche Steuerung) der globalen Bildungsentwicklung konzentrierte.
Wie in der Konferenz aufgedeckt wurde, bediente sich die OECD williger Politiker in den entscheidenden Ländern, um ihren Fuß hineinzubekommen. Diese Politiker schufen nationale „Brückeninstitutionen“ für die OECD und andere internationale Organisationen - pikanterweise zumeist unter Umgehung der eigenen nationalen Bildungsforschung.
Auf diesen völkerrechtlich höchst problematischen Vorgang zielte auch der Schweizer Daniel Tröhler, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und renommierter Spezialist für historische Bildungsforschung. Tröhler verfolgt die Wurzeln dieser OECD-Strategie bis in die Nachkriegszeit in den USA zurück: Seit dem Sputnikshock 1957 lancierte deren Regierung eigene Notprogramme zur Optimierung ihres larmoyanten Bildungswesens im Sinne eines antikommunistischen Verteidigungsaktes (National Defence Education Act).
Bereits 1958 sei in den USA aus der Armee der Ruf nach Standardisierung, Vergleichsprüfung und Ranking laut geworden – dies gemäß der Vorstellung, ein Bildungswesen könne einem technischen Regelsystem gleich durch Messen des „Outputs“ (Zahlen und Tabellen) qualifiziert und durch Systemmanipulation optimiert werden.
Wesentlichen Einfluss auf diese Vorstellung hatte dabei der prominente Behaviourist Burrhus F. Skinner, der die „programmierte Instruktion“ als Methode der Wahl propagierte: also Lernen als vorwiegend technischen, selbstgesteuerten Vorgang, praktisch ohne Lehrersperson auskommend – eine Theorie, die in der aktuell propagierten Didaktik mit dem „selbstgesteuerten Lernen “ und den Lehrpersonen als „Coachs“ oder „Moderatoren“ eine Neuauflage erlebt.

Bildungsmonitoring durch nationale Vergleichstests
Mit der „output“-gesteuerten Testkultur konnte die US-Regierung laut Tröhler ein strategisches Ziel erreichen: nämlich den eigenen Bildungsföderalismus zu überlisten. Über die Einführung nationaler Vergleichstests konnte ein Bildungsmonitoring geschaffen werden, das datengestützte Topdown-Verordnungen ermöglichte.
Pisa erachtet er als politisches Instrument derselben hegemonialen Strategie - nun in Händen der OECD: unterschiedlich gewachsenen Bildungssystemen souveräner Staaten eine uniforme Norm und Kontrolle aufzuzwingen.
Den Zusammenbruch des europäischen Widerstandes gegen das US-inspirierte Konstrukt Pisa in den 1990er Jahren könnte der Siegeszug eines global agierenden, neoliberalen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des sozialistischen „Ostblocks“. Dadurch gewannen ökonomistische Theorien die Oberhand, die Bildung lediglich als ‚Ressource’ („Humankapital“) bewerten. Der Wert von „Humankapital“ bemisst sich dabei ausschließlich an seinem direkten wirtschaftlichen Nutzen.
Auf der New Yorker Konferenz charakterisierte man diese Neuorientierung von Bildung als „Ontologisierung“ neoliberaler Globalisierungsprozesse. Die OECD hat also quasi eine Seinsform (Ontologie) des Menschen übernommen und auf Schule und Unterricht übertragen, die zur neoliberalen Weltsicht passt. Zur Sicherung dieser Seinsform hat sie die globale Steuerung der Bildung in die Hand beziehungsweise den Staaten aus der Hand genommen.
Nikolas Rose, Soziologieprofessor an der London School of Economics charakterisiert diese utilitaristische Seinweise des „new citizen“ als eine Lebensform, in der „life is to become a continuous economic capitalization of the self.“
In den Pisa-Studien und der OECD-Governance ist also keine Bemühung zu sehen, nationale Bildungssysteme zu optimieren, sondern die Absicht, weltweit eine globalisierte, standardisierte Bildungspraxis zu installieren. In dieser werden Menschen auf ihren Wert als „Humankapital“ reduziert und die Nationalstaaten haben sich einem globalen Bildungs-Leviathan unterzuordnen.
Höchst fraglich ist, ob diese Zielsetzung und der Weg dahin wohl mit den Bedingungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Völkerrecht und Gemeinwohlförderung vereinbar sind.
Zum Autor: Dr. phil. Beat Kissling, Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Beiratsmitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen; beruflich tätig als Gymnasiallehrer und Hochschuldozent.

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