Kampfplatz Schule: Viele Kinder können sich nur noch mithilfe von Ritalin auf den Schulstoff konzentrieren, Bild: Fotolia
Taumeln zwischen Anspruch und Realität, Basler Zeitung, 22.9. von Franziska Laur
«In der Primarschule ist der Lehrerin aufgefallen, dass ich mich schnell
ablenken lasse», sagt Sophie*. Ruhig steht sie da, blasses Gesicht, dunkle
Haare. Ihre Mutter war es, die Sophie zu den Ärzten sandte. Aus Angst, dass
ihre Tochter ihr intellektuelles Potenzial nicht ausschöpfen kann. So kam das
Mädchen aus Basel mit acht Jahren zum Ritalin, der Leistungsdroge. Die Pille
für die Pflichterfüller-Generation. Denn anders als in den Siebzigern, als
Jugendliche LSD und Heroin nahmen, um dem Muff der Etablierten zu entkommen,
hilft heute Ritalin, sich den Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Es ist
die erste Generation, die eine Vernunftdroge konsumiert.
Die Kinder und Jugendlichen tun es auf Druck von Eltern und Lehrern. Sie
tun es aufgrund einer Diagnose, von der Ärzte sagen, dass sie keine Krankheit,
sondern eine Eigenschaft ist: AD(H)S. Kinder mit einem diagnostizierten ADS
(Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) haben Mühe, sich zu konzentrieren. Kommt eine
Hyperaktivität dazu, können sie kaum still sitzen. Viele erhalten dann Ritalin
verschrieben. Allein zwischen 1999 und 2012 hat sich der Verbrauch von
Methylphenidat, der Base von Ritalin und ähnlichen Medikamenten, fast
verzehnfacht. Damals wurden 38 Kilogramm verkauft, im Jahr 2012 waren es 326
Kilogramm. Im vergangenen Jahr hat der Verbrauch nochmals um 12 Kilogramm
zugenommen.
Ärzte sehen
keine Gefährdung
Für den gesunden Körper sei Ritalin nicht gefährlich, sagen die Ärzte.
In fast 90 Prozent der Fälle wirke das Medikament erfolgreich und verbessere
die fokussierte Aufmerksamkeit und Selbststeuerung. Das Ziel der Therapie
bestehe darin, das vorhandene individuelle Potenzial auszuschöpfen, um dadurch
das Selbstwertgefühl zu verbessern, sagt Roland Laager, Co-Präsident der
Kinder- und Jugendärzte Regio Basel mit eigener Praxis in Birsfelden. «Es geht
darum, den Kindern mit einer gezielten Therapie die Erfahrung zu ermöglichen,
dass sie etwas können und jemand sind.»
Was spricht gegen die Einnahme von Ritalin? Die meisten Jugendlichen
wollen nicht rebellieren, Sophie gehört dazu. Und ihre Mutter war entschlossen,
der Tochter trotz ihrer Unkonzentriertheit eine Aufstiegsmöglichkeit zu
verschaffen. Nachdem sie Sophie zu Abklärungen geschickt hatte, stellte der
Arzt ein leichtes ADS fest, die Psychiater einen erhöhten
Intelligenzquotienten. Morgens nimmt sie 40 Milligramm Ritalin, nachmittags 10.
«Ich selbst spürte keinen Unterschied.» Die Lehrerin sehr wohl. «Mit der Zeit
merkte auch ich, dass ich mich lange konzentrieren kann und nicht abgelenkt
bin», sagt Sophie.
Klara* hingegen hinterfragt die Einnahme von Ritalin. Sie bekam das
Medikament wegen Unkonzentriertheit und Hyperaktivität vor drei Jahren
verschrieben. «Scheisspillen!», sagt sie. Sie fühle sich «unterdrückt» durch
das Medikament, sagt die 17-Jährige im Gespräch mehrmals. Sie könne nicht sich
selber sein. Trotz dem gefühlten Sklavendasein: Sie nimmt das Medikament, wenn
sie sich bei ihrer KV-Ausbildung konzentrieren und lernen muss. «Ich lerne dann
zwar wie eine Maschine, doch meine Freude und Neugier an der Welt ist weg»,
sagt sie. So nimmt sie, wie Sophie auch, das Medikament nur gezielt in der
Schule.
Um jeden
Preis mithalten können
Dabei stellt sich eine andere Frage: Wieweit wirkt Ritalin
wettbewerbsverzerrend? Noten werden nach der durchschnittlich erwartbaren
Leistung vergeben. Was, wenn ein Ritalinkonsument die beste Abschlussarbeit
schreibt? Verzerrt er den Notenspiegel?
«In neun von zehn Fällen verlieren ADHS-Kinder aufgrund ihrer
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung den Kampf im Wettbewerb», sagt
Kinderarzt Roland Laager. Doch, betont er, ADHS sei keine Krankheit, sondern
eine Eigenschaft einiger Menschen. Früher, da habe man mehr Platz gehabt und
sei bezüglich Stillsitzen nicht so unter Druck gewesen. «In unserer heutigen
Gesellschaft mit den vielen Lernaufgaben ist es sehr viel schwieriger, mit ADHS
zu leben. Ritalin gibt die Möglichkeit, den Lernstoff besser aufzunehmen, sich
besser zu konzentrieren.»
Doch man gebe das Medikament nicht leichtfertig ab. Zuvor würde
umfassend abgeklärt, wobei auch das Umfeld einbezogen werde. «Ob ein ADS oder
ADHS behandelt werden muss oder nicht, hängt sehr stark vom Umfeld ab», sagt
Laager. Ein ADHS-Schüler in einer Klasse mit straffer Führung könne vielleicht
ohne Ritalin durchkommen. «Klare Strukturen helfen diesen Kindern enorm. Je
mehr Unruhe und Bewegung in einer Klasse herrschen, desto schwieriger wird es
für sie.»
Unruhiges
Schulsystem
Heute ist das Schulsystem mit der Anwesenheit von mehreren Lehrern und
Fachpersonen im Schulzimmer und dem Gruppenlernsystem sehr unruhig geworden.
«Dies kann mit ein Grund sein, dass das eine oder andere Kind mehr Ritalin
braucht», sagt Laager. Doch eine medikamentöse Therapie werde immer eng mit
einer Verhaltenstherapie begleitet.
Kaum ein Thema der vergangenen Jahre spaltet so viele Geister wie die
Einnahme von Ritalin. Viele Eltern wehren sich gegen den Verdacht, ihren
Kindern gedankenlos Ritalin verschreiben zu lassen. Sie sagen, sie hätten mit
ihnen zuvor eine lange Leidensphase durchgemacht und erst auf diese Weise seien
ihre Kinder endlich einmal zu Erfolgserlebnissen gekommen.
Der deutsche Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky stellt das Thema ab und
zu ins Zentrum seiner Referate: «Ich habe überhaupt kein Problem mit dem
Medikament. Was sollte daran schlecht sein, wenn jemand mehr Anerkennung
bekommt, weil er mit Ritalin mehr leistet?» Und er setzt hinzu: «Warum wollen
wir es jemandem verbieten, der seine intellektuelle Leistung nicht ausspielen
kann, sich mit Pillen konzentrierter und leistungsfähiger zu machen?» Er kenne
keine einzige objektive Studie, die beweise, dass Ritalin süchtig oder krank
mache – alle seien sie interessengeleitet.
Schaden
kleiner als der Nutzen
Tatsache ist jedoch, dass das Medikament Nebenwirkungen verursacht.
«Auch Kaffee, Tee oder Nikotin haben Nebenwirkungen. Der Mensch entscheidet für
sich, dass der Schaden kleiner ist als der Nutzen und es steht niemandem zu,
ihm diese Entscheidungsfreiheit abzusprechen», sagt Jánszky. Bei seinen
Referaten frage er das Publikum ab und zu, wer eine Pille nehmen würde, wenn er
durch sie mehr Erfolg haben würde. 80 Prozent würden sich melden. Diejenigen 20
Prozent, die es ablehnen, würden dies mit einer grossen Vehemenz, ja fast
aggressiv tun. Ihr Argument: Die Natur stehe über allem. «Doch seien wir doch
ehrlich. Wir drehen uns die Welt doch schon lange zurecht, wie wir sie gerne
hätten.»
Aus Sophie hat Ritalin jedenfalls die Musterschülerin gemacht, die sie
gemäss ihrer Mutter sein sollte: hellwach, fokussiert und diszipliniert. Die
Schlafprobleme und der Appetitverlust hätten sich mit der Zeit eingependelt,
sagt sie. Allerdings: «Meine Freundinnen sagen, dass ich mit Ritalin
distanzierter bin.» In den Ferien und über das Wochenende nimmt sie es nicht:
«Dann grinse ich den ganzen Tag.» Obwohl sie trauriger wird mit Ritalin, hat
sie sich nie geweigert, es einzunehmen. Doch heute ist sie 18 Jahre alt und
kann tun und lassen, was sie will. «Ich überlege mir, es abzusetzen», sagt sie.
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