Schwere Küche, leichte Sprache - gratiniert ohne Bildungsballaststoffe, Bild: Ralf Gosch
Analphabetismus als geheimes Bildungsziel, Frankfurter Allgemeine, 24.9. von Konrad Paul Liessmann
Es ist gespenstisch: Eine Mutter nutzt das
Angebot der Grundschule ihrer Tochter zu einem Tag der offenen Tür und nimmt
interessiert am Unterricht teil. Die junge, engagiert wirkende Lehrerin spricht
über Tiere, fragt, welche Tiere die Kinder kennen, schreibt die Tierarten, die
ihr zugerufen werden, an die Tafel. Und dann, die Mutter traut ihren Augen
kaum, steht da, groß und deutlich: Tieger.
Und das Erstaunliche daran: Das war kein Fauxpas,
keine einmalige Fehlleistung, wie sie vorkommen kann, sondern hatte System, war
Konsequenz der Methode, mit der die junge Lehrerin selbst schreiben gelernt
hatte: nach dem Gehör! Schreiben, wie man spricht, ohne dabei korrigiert zu
werden - das könnte die Kinder traumatisieren -, wird schon seit geraumer Zeit
praktiziert und zeitigt nun seine sichtbaren Erfolge: das Ende der
Orthographie.
Volkskrankheit Analphabetismus
Die durch die unglückselige und misslungene
Rechtschreibreform provozierte Unsicherheit und Gleichgültigkeit allen Fragen
eines korrekten Sprachgebrauchs gegenüber wird durch eine Didaktik verstärkt,
die den regelhaften Charakter unserer substantiellen Kulturtechniken
systematisch verkennt und bekämpft. Jeder, wie er will, und wer gar nicht will,
kann am Ende weder lesen noch schreiben.
Die Klage von Universitätslehrern, dass Studenten
auch in Fächern, in denen der sprachlichen Formulierung besonderes Augenmerk
zukommen sollte, weder die Rechtschreibung noch die Grammatik beherrschen und
nicht mehr imstande sind, das einigermaßen präzise auszudrücken, was sie -
vielleicht - sagen wollten, zeigt, dass solche Lockerheit im Erlernen der
Kulturtechniken nicht folgenlos bleibt. Wenn als Konsequenz schulischen
Unterrichts am Ende ein „Sprachnotstand an der Uni“ konstatiert werden muss,
dann ist zu vermuten, dass es sich nicht nur um methodisch-didaktische
Schwächen, sondern um eine grundlegende Entwicklung handelt, in der sich ein
prekärer Einstellungswandel manifestiert.
Gegen Ende der Bildungslaufbahn eines jungen
Menschen, so scheint es, fehlt es offensichtlich noch immer an fast allem.
Analphabetismus ist längst keine Metapher mehr für eine Unbildung, die nur
wenige am Rande der Gesellschaft betrifft, sondern der Skandal einer modernen
Zivilisation schlechthin: dass junge Menschen nach Abschluss der Schulpflicht
die grundlegenden Kulturtechniken nur unzureichend, manchmal gar nicht
beherrschen.
Weg mit den verzichtbaren Privilegien
Natürlich ist nach jedem Schreib- oder Lesetest das
Entsetzen groß, und der Ruf nach noch mehr Kompetenzorientierung, noch mehr
individualisierter Didaktik, noch mehr modernen Unterrichtsmethoden, noch mehr
Fehlertoleranz, noch mehr Einbezug von Laptops und Smartphones in den
Unterricht wird lauter. Dass es gerade diese Forderungen und ihre Durchsetzung
sind, die die Misere erst erzeugt haben, kommt auch den radikalsten
Bildungsreformern nicht in den Sinn. Der Verdacht, dass man gezielt versucht,
diesen Problemen zu entgehen, indem man die Niveaus neu definiert, für
Schwächen euphemistische Umschreibungen findet und alles allen so einfach wie
möglich macht, schleicht sich ein.
Neben der umstrittenen Methode, Schreiben nach dem
Gehör zu lernen, zählt der Versuch, die Lesefähigkeit zu steigern, indem man
die Texte drastisch vereinfacht, zu den problematischen Strategien einer
umfassenden Praxis der Unbildung. Texte in „Leichter Sprache“, die schon von
zahlreichen Ämtern aus nachvollziehbaren Motiven eingesetzt werden, um Menschen
ohne ausreichende Sprachkenntnisse und geistig Behinderten den Zugang zu
behördlichen Informationen zu erleichtern, wandeln sich unter der Hand zu einer
neuen Norm, deren Regeln alsbald den durchschnittlichen Sprachstandard
definieren könnten: „Kurze Wörter benutzen, sie gegebenenfalls teilen und mit
Bindestrichen verbinden. Verboten sind lange Sätze, Passivkonstruktionen,
Negationen, der Konjunktiv. Die Satzstruktur soll einfach sein, Nebensätze
dürfen nur ausnahmsweise vorkommen, aber nie eingeschoben sein.“
Sprache, so suggerieren es diese Konzepte, dient
nur der Übermittlung simpler Informationen. Dass in und mit Sprache gedacht und
argumentiert, abgewogen und nuanciert, differenziert und artikuliert wird, dass
es in einer Sprache so etwas wie Rhythmus, Stil, Schönheit und Komplexität als
Sinn- und Bedeutungsträger gibt, wird schlicht unterschlagen oder als
verzichtbares Privileg von Bildungseliten denunziert.
Die Reduktion auf das Funktionale
Dass durch solches Entgegenkommen, vor allem wenn
es auch als Unterrichtsprinzip reüssieren sollte, Menschen systematisch daran
gehindert werden, sich einer einigermaßen elaborierten Sprache bedienen zu
können, dass sie dadurch von der literarischen Kultur ferngehalten werden, wird
bei diesen wohlmeinenden Versuchen nicht weiter bedacht. Und selbst wenn man
die Sprache unter pragmatischen Gesichtspunkten sehen und als „praktisches
Bewusstsein“ deuten wollte - bedeutete eine stark vereinfachte Sprache nicht
auch ein stark vereinfachtes Bewusstsein?
Die mit dem Standardargument der
Zugangserleichterung zu abschreckenden Kulturtechniken allmählich durchgesetzte
Tendenz, die zusammenhängende Schreibschrift abzuschaffen und durch eine
unzusammenhängende Buchstabenschrift, eine leicht zu erwerbende „Grundschrift“,
zu ersetzen, scheint genau dies im Sinne zu haben. Schon jetzt können
Jugendliche, die in viel gelobten Laptop-, Notebook- oder Smartphone-Klassen
unterrichtet werden, nicht mehr mit der Hand schreiben.
Dass dabei mehr verlorengeht als nur eine überholte
Kulturtechnik, wissen alle, die sich näher mit dem Zusammenhang von Lesenlernen
und Schreibenlernen, von Feinmotorik und Hirnentwicklung, von Kreativität und
Freiheit beschäftigt haben. Auch hier wird die Reduktion auf das vordergründig
Funktionale erkauft mit dem Verzicht auf Bedeutungsvielfalt und auf die
Möglichkeit, souverän über unterschiedliche Techniken des Erzeugens und Lesens
von Texten zu verfügen.
Systematische Sabotage
Ist der Prozess des Schreibens selbst kreativ, dann
weiß man in dem Moment, in dem man den ersten Satz formuliert, nicht, wie der
letzte Satz lauten könnte. Schreiben in diesem avancierten Sinn heißt nicht,
Gedanken, Argumente, Überlegungen oder Theorien in eine angemessene sprachliche
Form zu bringen, sondern im Vertrauen auf die mögliche Eigendynamik des
Schreibens darauf zu bauen, dass aus dem Fortschreiben der Wörter die Gedanken
und Ideen überhaupt erst entstehen. Die Voraussetzung dieses Vertrauens aber
ist eine Freiheit, die den Schreibenden an keine Vorgaben bindet.
Was bedeutete dies für die Realität des
Schreibunterrichts? Schreiben wird in der Regel unter pragmatischen
Gesichtspunkten gesehen, bei denen es genau darum geht, bekannte Informationen
oder andere Vorgaben textsorten- und adressatengerecht aufzubereiten. Eine der
am weitesten verbreiteten Formen des Schreibens im Unterricht hat mit Schreiben
im eigentlichen Sinn gar nichts mehr zu tun: das Ausfüllen und Ankreuzen.
Dass nicht nur im Sachunterricht, sondern auch im
Sprachunterricht immer mehr mit Aufgaben gearbeitet wird, bei denen es nur noch
darum geht, ein Wort einzusetzen, zu unterstreichen, zu ergänzen oder aus einer
vorgegebenen Liste eine Auswahl zu treffen, mag zwar die eine oder andere
Kompetenz schulen, der Prozess des Schreibens wird dadurch aber systematisch
sabotiert.
Der Schreibprozess wird abgeschafft
Das gilt nicht nur für die Erarbeitung der
Grundlagen, sondern setzt sich auch in der Sekundarstufe, ja an den
Universitäten fort. Was dabei verlorengeht, ist letztlich die Fähigkeit,
überhaupt ein Gefühl dafür zu entwickeln, was es heißt, zusammenhängende Sätze
zu bilden, die zumindest einer basalen Logik folgen. Dass an Universitäten bei
Klausuren immer mehr Studenten erschrecken, wenn sie erfahren, dass sie Fragen
oder Themen in vollständigen Sätzen beantworten oder behandeln sollen, zeigt
dies nur allzu deutlich.
Die in Deutschland gültigen „Bildungsstandards im
Fach Deutsch“ fordern zum Beispiel, dass die Schüler „Schreibstrategien
anwenden“, ihr Wissen und ihre Argumente „darstellen“, komplexe Texte
„zusammenfassen“ und Texte für unterschiedliche Medien „gestaltend schreiben“
können. Die an diesen Standards orientierten „Schreibaufträge“ zergliedern den
Prozess des Schreibens in die Beantwortung von Fragen, die einzeln abgearbeitet
werden müssen, und dort, wo eine eigene Position entwickelt werden soll, muss
natürlich vorher ein „Schreibplan“ oder eine „Mindmap“ angelegt werden.
Die Aufgabenstellungen bei der schriftlichen
Reifeprüfung im Fach Deutsch spiegeln diese Position wider. Da es ja darum
geht, bestimmte Kompetenzen zu überprüfen, muss jede Aufgabe in einzeln
abzuarbeitende Fragestellungen zerteilt werden, die einen natürlichen
Schreibfluss, eine Entfaltung von Gedanken oder die Etablierung einer
begrifflichen Ordnung als Resultat - nicht als Voraussetzung - des
Schreibprozesses prinzipiell nicht mehr zulassen.
Ständige Kontrolle verwehrt das Eintauchen in den
Text
Die Angst, dass bei einem frei gestellten Thema
irgendetwas hingeschrieben wird, das sich jeder Überprüfbarkeit entzieht, war
und ist sicher nicht unberechtigt. Der freie Aufsatz hatte seine Tücken. Aber
deshalb jungen Menschen überhaupt die Möglichkeit zu verwehren, sich wenigstens
hin und wieder dem Prozess des Schreibens überlassen zu können, um sich selbst
mit einer Ordnung oder Unordnung ihrer Gedanken zu konfrontieren, die sich erst
im Schreiben gebildet hat, kommt dem mutwilligen und fahrlässigen Verzicht auf
eine zentrale Bildungserfahrung gleich.
Auch die Texte und Kontrollfragen, die etwa der
Pisa-Test benutzt, um die Lesekompetenz zu überprüfen, verraten einen
einseitigen und eingeschränkten Lesebegriff. Im Zuge der Bestimmung des Lesens
als einer ständig zu überprüfenden Kompetenz geht die aktuelle Lesedidaktik
dazu über, jeden Leseakt durch vermeintlich hilfreiche Kontroll- und
Verständnisfragen zu stören und damit zu zerstören.
Wer ein aktuelles Lesebuch zur Hand nimmt, wird
erstaunt sein über die ohnehin schon knappen Texte, die nach wenigen Absätzen
schon durch Arbeitsaufträge, Kontrollfragen und Übungen unterbrochen sind. Wie
soll ein Kind, ein junger Mensch unter diesen Bedingungen Lust am Lesen
entwickeln, wie soll er lernen, sich der Dynamik des Lesens zu überlassen, in
einen Text zu versinken, in den Sog des Geschriebenen zu geraten, wenn er alle
paar Minuten über das Gelesene Rechenschaft ablegen, sich nach jedem Absatz
überprüfen lassen muss?
Schreiben muss hart erlernt werden
Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der die
Literatur und mit ihr das Buch das Leitmedium war, und die berechtigte Klage
über den Verlust der Fähigkeit, auch anspruchsvolle Texte zu lesen, darf nicht
vergessen, dass diese Form des Lesens als Kulturtechnik drastisch an Bedeutung
verloren hat. Da gibt es nichts zu beschönigen, und die beschwichtigenden
Versicherungen kinderfreundlicher Lesedidaktiker, dass heute mehr denn je
gelesen werde, weil ständig über Smartphones auch Texte oder Textfetzen
ausgetauscht und weitergeleitet würden, klingen ungefähr so wie die Behauptung,
dass heute mehr denn je geritten würde, weil fast jeder Mensch einige Dutzend
Pferdestärken wenn nicht zwischen seinen Schenkeln, so doch unter seinem
Hintern habe. Nein, wir halten die meist dämlichen Sätzchen auf Twitter, die
Statusmeldungen und die dazugehörigen Kommentare auf Facebook und die in der
Regel niveau- und stillosen postings der User digitaler Medien nicht für
Literatur.
Der Eingang in das Reich der Literatur aber hatte
seinen Preis: Erfordert war eine Disziplinierung der Sinne und des Körpers, wie
sie kein anderes Medium dem Menschen abverlangte. Im Gegensatz zur Sprache, zum
Hören und zum Sehen ist uns das Entziffern und Arrangieren von Buchstaben nicht
von Natur gegeben. Lesen und Schreiben sind mehr als eine
menschheitsgeschichtlich betrachtet sehr spät erfundene Kulturtechnik - sie
sind eine Form der Weltaneignung und Welterzeugung, die in bestimmter Weise die
Negation der unmittelbaren Selbst- und Welterfahrung zur Voraussetzung hat. Wer
liest oder schreibt, dem muss im Wortsinn Hören und Sehen erst einmal vergehen.
Der Sinn von Schule lag einmal darin, diese Negation erfahrbar zu machen und
einzuüben.
Die vollkommene Geistfeindlichkeit
Lesen und Schreiben sind keine Tätigkeiten, die man
einmal lernt, jahrzehntelang brachliegen lassen und trotzdem bei jeder
Gelegenheit reaktivieren kann. Wer nicht ständig liest, verlernt das Lesen
wieder; wer Sprache und Texte nur unter pragmatischen Gesichtspunkten sieht,
wird nur dann lesen, wenn es gar nicht anders geht; wer für die Schicksale,
Geschichten, Tragödien und Komödien der Literatur keinen Enthusiasmus
entwickeln kann, wird Lesen letztlich als Zumutung empfinden; wer nicht das
Buch als physisches Objekt lieben und hassen gelernt hat, wird nie richtig
lesen lernen; wer in eine Schule geht, in der aufgrund vorgegebener
Bildungsstandards und anwendungsorientierter Kompetenzen diese Liebe zur
Literatur nicht mehr vermittelt werden darf, wird zum Analphabetismus
verurteilt.
So wohltönend können die Reden der Bildungsreformer
und ihrer politischen Adepten gar nicht sein, dass sich dahinter nicht jene
Geistfeindlichkeit bemerkbar machte, die den Analphabetismus als geheimes
Bildungsziel offenbart. Wäre es anders, gäbe es, zumindest als Schulversuch, nicht
nur Notebook-Klassen, sondern vor allem und in erster Linie wirkliche
Buch-Klassen. In der generellen didaktischen Missachtung des Buches -
„Ganzschrift“ heißt das dafür zuständige Unwort - zeigt sich die Praxis der
Unbildung in ihrer erbärmlichsten Gestalt.
Dabei wäre alles ganz einfach: Lesen und Schreiben
sind Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Dass
der Erwerb dieser Techniken nicht jedem leichtfällt, ist kein Grund, das
Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von
Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren. Besser wäre
es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit
allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen
und schreiben lernen.
Der Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Kapitels aus seiner
Streitschrift „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung“, die am 29. September
in den Buchhandel kommt (Paul Zsolnay Verlag, Wien, 176 Seiten, 17,90 Euro).
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