Alain Pichard. "Wenn etwas falsch läuft, so muss man es benennen", Bild: Franziska Laur
"Wer Therapie sät, wird Fälle ernten", Basler Zeitung, 4.7. von Franziska Laur
Pichard, das ist spröder Charme, ungebändigte Frisur,
Bauchansatz, zerknittertes weisses Hemd. 59 Jahre alt ist er und noch lang
nicht müde. Er lanciert Petitionen, stellt eine Widerstandsgruppe gegen den
Lehrplan 21 auf die Beine, schreibt scharfe Artikel und Leserbriefe gegen die
Bildungsverantwortlichen. An diesem Sommertag sitzt der sechsfache Vater auf
dem Balkon, blickt auf die Blitze, lauscht dem Donnergrollen und schaut über den
Garten und den nahen See. «Eigentlich habe ich ja ein schlechtes Gewissen, hier
zu wohnen», sagt er. Es sei fast etwas zu schick für ihn, sagt er. Doch es habe
sich so ergeben. Seine Frau und er konnten das Haus der Schwiegereltern
übernehmen und Wohnungen einbauen.
Marx und Engels als Lektüre
Der
Basler, der einst Marx und Engels las, PDA-Mitglied war und die
VPOD-Lehrergruppe Biel mitgegründet hat, sagt: «Die Geschichte der grossen
Reformen ist gescheit, aber gescheitert.» Er glaubt nicht mehr, dass Schüler
vom angestrebten Schulsystem mit Integration und Lernplan 21 profitieren
können. Ein Lernplan, der mehr auf Schein statt Sein setze, der Wissen in den
Hintergrund stelle und stattdessen komplizierte Gebilde von Kompetenzschritten
auftürme, sei nichts anderes als Betrug an den Jungen.
«Wir
Praktiker, die von den Jugendlichen etwas verlangen, ihnen eine Beziehung
anbieten, wir sind ihre wahren Anwälte», sagt er und weiss doch, dass er ein
einsamer Rufer ist in der Wüste vieler stumm gewordener Lehrerkollegen.
Solchen, die die Faust im Sack machen und resignieren, und solchen, die sich
in die Privatwirtschaft oder Bildungsverwaltung zurückziehen. Zu sehr lockt
das Geld und die bequeme Büroarbeit. So wird das System stets aufgeblähter und
teurer. Trotzdem oder gerade deswegen: Mehr als 16 Prozent der Schüler können
kaum lesen und schreiben, wenn sie nach neun Jahren die Volksschule verlassen.
Das
Gewitter hat sich verzogen, dafür ziehen bei Pichard für kurze Zeit dunkle
Wolken auf. «Den Kampf haben wir vermutlich verloren. Unter anderem, weil auch
die Linke und die Lehrerverbände den Unsinn mitmachen», sagt er. «Die Linke
hätte alles Interesse, dem Lehrplan 21 und der damit verbundenen
Kompetenzorientierung kritisch gegenüberzustehen. Aber sie wird mit Jobs in der
Bildungsbürokratie geködert.» Er glaubt, dass man sich in 20 Jahren die
Augen reibt und sagen wird: «Was für einen Blödsinn haben wir gemacht.» Ihn,
der sich bequem zurücklehnen und die Jährchen bis zur Pensionierung aussitzen
könnte, treibt heute das Schicksal der jungen Leute um.
Mit
ungestümen, vorlauten Jugendlichen kennt er sich aus. Nicht zuletzt, weil er
selber einer war. Im dreisprachigen Linguismusmüesli aufgewachsen – mit der
Berliner Mutter Deutsch sprechend, mit dem welschen Vater Französisch und
gemeinsam Englisch –, war er selbst ein fauler Kerl. Ein halbes Jahr vor der
Matur flog er von der Schule. Danach weigerte sich sein Vater, ihm noch
irgendwas zu finanzieren. Der junge Pichard war gezwungen, zu arbeiten. Im
Schlachthof Basel entsorgte er die Schlachtabfälle. «Die Arbeit hat mich
geerdet, ja sogar gerettet», sagt er. Ausserdem hat sie ihm eine wichtige Lebenserkenntnis
für seinen Beruf vermittelt: Nehmt die Jungen in die Verantwortung und holt sie
auf den Boden der Realität.
Er fördert und fordert
Lange
Zeit hat er als Realschullehrer in Biel Französisch, Deutsch und Mathematik
unterrichtet. In Klassen mit einem Anteil von 85 Prozent Migranten. Die
Realklassen, so sagt er, seien – vor allem in den sozialen Brennpunkten – das
Auffangbecken für all die Schüler, die früher in Kleinklassen waren:
Verhaltensauffällige, Behinderte, Laute, Lernschwache. Doch er mag sie alle. Er
habe kein Rezept, sagt er. «Er ist der Beste, den wir je hatten», sagen die
Schüler. Unterdessen sind es nicht weniger als 37 Jahre, die der Basler in der
Region Biel unterrichtet.
Er
fordert viel von seinen Schülern. «Wieso immer wir?», sagen sie dann. Und
Pichard erwidert: «Gefährlich wird es erst, wenn ich nichts mehr fordere.»
Seine schlimmste Strafe sei die Drohung, drei Wochen lang keine Aufgaben mehr
zu korrigieren. Er vermittelt ihnen Spirit, Passion, manchmal auf eine
hemdsärmlige, direkte Art. «Sie müssen stolz sein auf das, was sie erreichen
können», sagt er. Natürlich mache auch er Fehler, immer wieder. «Ich bin kein
Zauberer», sagt er.
Kürzlich
wollte ein Schüler bei einem Mädchen die Aufgaben abschreiben. Sie liess ihn
nicht. Da rastete der Junge aus und bedrohte sie. «Selber schuld, wenn du nicht
lernst», sagte Pichard zu ihm. Der Junge kam mit einer Verwarnung davon. «Bei
mir kriegt jeder eine zweite Chance», sagt Pichard. Doch auch bei ihm gibt es
Grenzen: «Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.» Das gelte
für die Schüler wie für den Lehrerberuf.
Auch Lehrer benoten
Die
Bändel seiner schwarzen Wohlfühlschuhe stehen offen, eine Narbe an seiner Wange
blitzt auf – ein medizinischer Kunstfehler bei seiner Geburt. Pichard ist ein
unermüdlicher und fesselnder Erzähler: So unterrichtete er einst ein türkisches
Mädchen, das bald perfekt Deutsch sprach und nach dem Schulaustritt eine
Bilderbuchkarriere hätte hinlegen können. Dann heiratete sie einen türkischen
Mann und blieb von da an im Haus. Heute lebt die vierköpfige Familie von der
Fürsorge und die Kinder können beim Eintritt in die Schule kaum Deutsch. «Wenn
etwas falsch läuft, so muss man es benennen», sagt Pichard. Ihn nervt, wenn
Ideologen jegliche Kritik an den Migranten als Bedrohung und Rassismus
betrachten.
Beizukommen
sei solchen Problemen nicht mit Fördermassnahmen. Der dichte Therapiegürtel in
den Schulen sei ineffizient, kontraproduktiv, teuer und nütze oft den Anbietern
mehr als den Betreuten. «Wer Therapie sät, erntet Fälle», sagt er. Doch auch
mit seiner eigenen Gilde geht Pichard hart ins Gericht: Es dürfe nicht sein,
dass nur den Schülern Noten von sehr gut bis miserabel verteilt würden. Auch
die Lehrer müssten diese Spannweite akzeptieren. «Mit anderen Worten, wir
müssen uns von unfähigen Mitarbeitern trennen. Dies wird eine Aufgabe der
Schulleitungen sein.»
Und
er fordert, dass Klassen von möglichst wenigen Lehrkräften geführt werden. «Es
braucht engagierte Lehrer, die mit Herzblut etwas für die Schüler tun wollen.»
Wenig hält er von der neuen Zauberformel der Bildungsverwaltung:
Qualitätsmanagement. «Solche Messinstrumente führen nur zu mehr Bürokratie und
damit zu Menschen, die ihr Geld sitzend verdienen und nicht im Kontakt mit den
Jugendlichen», sagt er. «Doch ich halte viel von Rückmeldungskultur. Man muss
sich Zeit nehmen, mit den Schülern ihre Arbeiten durchgehen. Das Problem ist,
dass diese Zeit kaum mehr vorhanden ist.»
Kein
Wunder, hat Pichard Feinde: Als er, der frühere überzeugte Sozialist und
heutige Grünliberale, im 2008 in den Stadtrat gewählt worden war, kam er in
einen Interessenkonflikt zwischen Politik und seiner Funktion als Lehrer. Da
wollte ihm der Bieler Bildungsdirektor Pierre-Yves Moeschler (SP) ein
Kommunikationskonzept aufzwingen. Doch weil sich Alain Pichard in Schulfragen
nicht den Mund verbieten lässt, reichte er die Kündigung ein. Seither arbeitet
er nicht mehr in Biel, sondern in der Gemeinde Orpund, einem Nachbardorf. «Es
war eine schwierige Zeit», sagte er. Aufs Gemüt schlug ihm das Gefühl, er lasse
seine alte Klasse im Stich.
Massive Widersprüche im System
«Du
musst nicht ihr Freund sein, doch man muss die Jugendlichen ernst nehmen und
einbeziehen», sagt er über sein Verhältnis zu seinen Schülern. Dann würden sie
Verantwortung übernehmen. Das hat er mit seinem Klassenrat erlebt. Als im
Schulhaus Probleme mit Vandalismus auftauchten, ging Pichard zum
Klassensprecher und sagte: «Wir haben ein Problem mit Vandalismus, könnt ihr
uns helfen?» Den Schuldigen bekam man nicht, doch der Vandalismus hörte sofort
auf.
Pichard
ist ein Pragmatiker, doch heute, so fürchtet er, wird das Schulsystem von
massiven Widersprüchen gelähmt: «Individualisierung und Standards, Autonomie
und vereinheitlichte Lehrpläne oder Integration und selektive Oberstufe sind
nun einmal nicht zusammen zu haben.» Man sei dabei, ein hybrides Modell
aufzubauen, und die Überforderung der Lehrkräfte sei vorprogrammiert. «Die der
Bildungsbudgets übrigens auch.»
«Ich
bin kein Missionar, ich erhebe meine Stimme und merke, dass sie ankommt», sagt
Pichard. Er sei auch kein Politiker. Trotzdem ist er in Biel der bestgewählte
Stadtrat. 2007 ist er aus der Grünen Partei ausgetreten. «Diese Partei wurde
immer sektiererischer, ein freier Diskurs war unmöglich. Politisches Asyl fand
er bei den Grünliberalen. Und nochmals sagt er: «In meinem Herzen bin ich immer
noch ein Linker.» Im Sonnenlicht leuchtet fahl die alte Narbe.
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