Es muss nicht jeder und jede ans Gymnasium, manche wären in einer Lehre besser aufgehoben, die Berufsbildung braucht leistungsstarke Jugendliche: Diese Argumente sind richtig. Doch sie gelten vor allem für junge Menschen mit praxisorientierten Begabungen, die sich weniger für akademische Inhalte begeistern können oder die Matura nur mit Ach und Krach hinkriegen.
Schickt endlich die Richtigen ans Gymnasium, NZZ, 3.5. von Margrit Stamm
Für eine nahezu
vergessene Gruppe trifft das Gegenteil zu: Intellektuell begabte und
interessierte Kinder aus Arbeiter- und einfachen Migrantenfamilien schaffen es
viel zu selten ans Gymnasium. Sie hätten zwar das Potential für den Übertritt,
bekommen aber keine Gelegenheit dazu. Empirische Daten machen dies mehr als
deutlich. Haben die Eltern studiert, tun dies 88 Prozent der Kinder auch. Aus
Arbeiterfamilien hingegen schafft nur knapp jedes vierte Kind ein Studium. Und
wenn der Vater gar keinen Bildungsabschluss hat, ist es sogar nur jedes
fünfundzwanzigste.
Dadurch gehen unserer
Gesellschaft jedes Jahr eine grosse Zahl an intellektuell begabten jungen
Menschen verloren. Es ist unabdingbar, das zu verändern. Und zwar, indem wir
statt Chancengleichheit Chancengerechtigkeit anstreben.
Der Erfolg eines
Menschen hängt nicht nur von Leistung ab
Gymnasium und
Universität sind weitgehend das Privileg der Schichten geblieben, die schon
gebildet sind. Noch immer entscheidet nicht der Grips, wer es ins Gymnasium
schafft, sondern vor allem die Herkunft. Dahinter steckt ein
Gerechtigkeitsproblem. Das meritokratische Versprechen, wonach die individuelle
Leistung den Status und den Erfolg einer Person bestimmt, ist ein Ideal
geblieben. Denn unser Bildungssystem hält nicht, was es verspricht.
Trotz grossen
Anstrengungen der Bildungsexpansion in den siebziger und achtziger Jahren haben
sich die Chancen für Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Schichten
nicht angeglichen. Die Chancenungleichheit ist sogar grösser geworden, weil der
Schulerfolg noch stärker als früher von der Herkunft abhängig ist. Spätestens
seit den Pisa-Studien wissen wir, dass die Bildungschancen in der Schweiz
deutlich ungleicher verteilt sind als in vielen anderen Ländern.
Arbeiterkinder, die das Rüstzeug fürs Gymnasium mitbringen würden, landen zu
oft in tieferen Schulniveaus.
Solche Fakten werden
oft mit zwei Legitimationsmustern kaschiert. Erstens verweisen
Bildungspolitikerinnen und -politiker gerne darauf, unser Bildungssystem gehöre
zu den durchlässigsten der Welt: Wer es nicht ins Gymnasium schaffe, könne
später trotzdem ein Hochschulstudium absolvieren. Zweitens ist die Überzeugung
weit verbreitet, dass Väter und Mütter ohne Ausbildung oder nur mit einer
Berufslehre sowieso nicht in der Lage seien, ihren Kindern im Gymnasium zu
helfen, weshalb diese in der Sekundarschule besser aufgehoben seien. Beide
Hinweise sind richtig, die damit verbundenen Argumentationsmuster aber falsch.
Mit Berufslehre und
Berufsmaturität wird ein Studium an einer Fachhochschule möglich, so das erste
Muster. Das ist längst der Königsweg für junge Menschen aus durchschnittlichen
Verhältnissen geworden. Diese neue Form von Durchlässigkeit hat teilweise zum
Abbau der sozialen Ungleichheit beim Hochschulzugang beigetragen.
Die neue
Durchlässigkeit darf nicht als Alibi benutzt werden
Während an
Universitäten vier von fünf jungen Menschen aus akademischen Elternhäusern
studieren, ist es an den Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen ein
guter Drittel. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, doch darf sie nicht
schöngeredet werden. Es kann nicht sein, dass die neue Durchlässigkeit als
Alibi benutzt wird, intellektuell begabte Arbeiterkinder in die Berufsbildung
abzudrängen, indem man auf die Möglichkeit eines späteren Fachhochschulstudiums
hinweist – während Söhne und Töchter aus Akademikerfamilien unhinterfragt
wieder Akademiker werden.
Auch das zweite
Legitimationsmuster hat seine argumentativen Lücken. Es setzt zu sehr auf die
Erwartung, dass Eltern die Lernleistung ihrer Kinder festigen helfen sollen und
diese «verantwortete Elternschaft» die Grundlage für eine erfolgreiche
Schullaufbahn sei. Dem widersprechen fast alle Untersuchungen der
frühkindlichen Bildungsforschung. Sie weisen nach, dass Kinder mit einem sehr
unterschiedlichen Rucksack an Startkapital und familiären
Unterstützungsmöglichkeiten ins Bildungssystem eintreten, dann aber entsprechend
ihrer sozialen Herkunft so sortiert werden, dass Arbeiterkinder die Sekundar-
oder Realschule besuchen, Akademikerkinder das Gymnasium.
Dieses Phänomen lässt
sich nicht in den Griff kriegen, indem man gutsituierten Eltern einredet, sie
sollten ihre Ambitionen herunterfahren. In einer demokratischen Gesellschaft
kann man ambitionierte Väter und Mütter nicht daran hindern, ihre Ressourcen
einzusetzen, um die Bildungslaufbahn der Kinder zu fördern. Ihre Absichten sind
legitim. Die Achillesferse liegt in der fehlenden Unterstützung begabter Kinder
aus einfachen sozialen Verhältnissen und in der meist zu grossen Zurückhaltung
ihrer Familien. Oft wollen die Eltern ihr Kind vor einem gymnasialen
Bildungsweg bewahren, weil sie befürchten, es könne sich emotional, intellektuell
und strategisch von ihnen entfernen.
Daran haben wir uns
gewöhnt. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die fehlenden
Arbeiterkinder am Gymnasium auffallend schnell mit der Metapher «Jeder ist
seines Glückes Schmied» relativiert werden. Alle jungen Menschen aus
bescheidenen Verhältnissen, so die Botschaft, könnten es hierzulande mit genug
Fleiss, Anstrengung und Hartnäckigkeit zu etwas bringen.
Erfolgreiche
Arbeiterkinder sind deshalb beliebte Medienobjekte, weil man ihre Geschichten
nicht nur bewundern, sondern auch mit dem salbungsvollen Schlagwort «Aufstieg
durch Bildung» versehen kann. Doch solche märchenhaften Schilderungen verdecken
die Realität. Ein intelligentes Arbeiterkind, das es – wie die Amerikaner sagen
– against all odds ans Gymnasium schafft, hat nicht einfach zusätzlich hart
gearbeitet, sondern auch viel Glück gehabt.
Es geht nicht nur um
Leistung, sondern auch um «Habitus»
Warum ist dem so? Zur
Erklärung gibt es theoretische Modelle, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit
einen gemeinsamen Nenner haben. Sie erklären die Ungleichheiten vor allem mit
Merkmalen der Familie sowie dem Einfluss der Schule. Zum einen ist es der
Bildungsstand der Eltern, der über Erziehungsstil, Anregungsgehalt und private
Förderung die Kompetenzen der Kinder beeinflusst. Er wird bereits beim
Schuleintritt sichtbar. Und zwar nicht nur bei der Spreizung der individuellen
Leistungsunterschiede zugunsten von Kindern aus gutsituierten Familien, sondern
auch beim «Habitus». Der Lebensstil kann sich in einem grösseren Wortschatz
zeigen, in der Kleidung, den Hobbies und dem Freundeskreis, den die Eltern oft
handverlesen zusammenstellen.
Ausgerüstet mit
solchen kulturellen Merkmalen, entsprechen diese Kinder den Idealen der Schule,
die sich an der Mittelschicht orientieren. Arbeiterfamilien haben oft andere
Erziehungsziele und Vorstellungen, wie sich ein Kind verhalten soll oder was
Schulerfolg ist. Manche Arbeiterkinder fühlen sich deshalb in der Schule anders
als die Kinder höher gebildeter Eltern und müssen Sprache und Verhalten
anpassen. Das gelingt ihnen unterschiedlich.
Zudem wirken sich die
Entscheidungen einer Familie je nach sozialer Schicht unterschiedlich aus und
erklären, weshalb Kinder aus gutsituierten Verhältnissen anspruchsvolleren und
kostspieligeren Bildungswegen zugewiesen werden – auch wenn sie sich nicht von
Kindern aus einfachen Verhältnissen unterscheiden. Geht es ums Gymnasium, sind
gebildete Väter und Mütter motivierter, fürchten sich kaum vor
Investitionsrisiken und gewichten das Sozialprestige höher als
Arbeiterfamilien. Diese kennen das Gymnasium nicht aus eigener Erfahrung,
schätzen die Hürden als hoch ein und schrecken vor den Kosten zurück, was sich
in einer Skepsis gegenüber akademischer Bildung äussern kann.
Das zeigt sich im
«Habitus der Notwendigkeit», einem Verhalten, das sich an der Verwertbarkeit
der Ausbildung orientiert. Solche Eltern wünschen sich, ihre Kinder sollten wie
sie eine Lehre absolvieren und schnell eigenes Geld verdienen. Dieser
Verwertbarkeitsgedanke kann den Horizont von Arbeiterkindern einschränken.
Selbstverständlich
gibt es Arbeiterfamilien, die stolz sind auf ihr smartes Kind und alles dafür
tun, ihm den Schritt ans Gymnasium zu ermöglichen. Doch je niedriger die
Bildungsorientierung der Familie, desto deutlicher ist die skeptische Haltung.
Aussagen wie «Wer ins Gymnasium geht und studiert, weiss nicht, was arbeiten
heisst», sind ein schlechtes Fundament für junge Menschen, die als erste in der
Familie übers Gymnasium und ein Studium überhaupt nachdenken. Zweifel, ein
geringes Selbstbewusstsein und Angst vor dem Scheitern sind programmiert.
Der Wert des
Gymnasiums sinkt
Jenseits der
unterschiedlichen familiären Entscheidungen erzeugt unser Zeitgeist ein
Bildungsparadox, das der Soziologe Ulrich Beck als «Fahrstuhleffekt» bezeichnet
hat. Gemeint ist das Phänomen, wonach unsere Gesellschaft sich zwar ein
kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Recht und Massenkonsum erarbeitet hat
und so eine Etage höher gefahren ist. Der Abstand zwischen den Schichten aber
ist dadurch nicht kleiner geworden. Der Trend zur Akademisierung und die
Entwertung von Bildungsabschlüssen haben diesen Fahrstuhleffekt im vergangenen
Jahrzehnt weiter verstärkt. In dem Masse, wie der Bedarf nach Bildung und der
Zustrom zu den Gymnasien wächst, sinkt ihr Wert.
Der Trend zum
Gymnasium führt deshalb auch dazu, dass es für alle immer enger wird – für
Arbeiterkinder sowieso, aber auch für Kinder aus Mittelschichtfamilien, die
sich einer immer grösseren Konkurrenz aus den eigenen Reihen gegenübersehen.
Wenn sich alle ähnlich verhalten und mehr in ihre Ausbildung investieren, zählt
auch die beste Leistung weniger als bisher. Der Soziologe Heinz Bude hat diesen
Sachverhalt an einem Beispiel veranschaulicht: Wenn im Fussballstadion alle
aufstehen, um besser aufs Spielfeld zu sehen, sieht niemand besser, als wenn
alle sitzen.
Noten sind nach wie
vor die wichtigste Voraussetzung für den Aufstieg. Auch Lehrkräfte sind oft
überzeugt, der Übertritt ins Gymnasium hänge von den Noten ab, weshalb die
Entscheidung einfach sei. Zu selten wird berücksichtigt, wie sie zustande
kommen. Arbeiterkinder werden gemäss verschiedenen Studien bei gleichen
Kompetenzen deutlich strenger bewertet als Kinder aus der Mittelschicht.
Nimmt man den
Intelligenzquotienten (IQ) als Massstab, sind viele Kinder heute am falschen
Ort. Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich hat
nachgewiesen, dass ein Drittel aller Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gar nicht
fürs Gymnasium geeignet ist. Andererseits verfügen bis zu zehn Prozent der
Jugendlichen, die nicht das Gymnasium besuchen, über einen IQ, der sie für
diesen Schultyp qualifizieren würde. Dies ist auch ein Ergebnis unserer
Längsschnittstudie «Hochbegabte Lehrlinge in der Berufsbildung», in der fast
acht Prozent der Lernenden einen überdurchschnittlichen IQ aufwiesen. Manche
von ihnen verfügten auch über akademisch orientierte Neigungen. Das heisst: Sie
wären für den Besuch eines Gymnasium prädestiniert gewesen.
Arbeitereltern kaufen
keine Vorbereitungsstunden ein
Der IQ ist nicht das
Mass aller Dinge. Gemäss der Forschung sprechen viele Indizien dafür, dass
sogenannte Lebenskompetenzen wie Fleiss, Durchsetzungsfähigkeit oder
Frustrationstoleranz für den langfristigen Bildungserfolg ebenso bedeutsam
sind. Doch die massive Übervertretung von Akademikerkindern am Gymnasium liegt
auch daran, dass die Lehrerinnen und Lehrer die soziale Herkunft und die
Erwartung der Eltern bei der Selektion berücksichtigen. Dies ist keine neue
Erkenntnis, aber der Bildungspolitik fällt es schwer, darauf zu reagieren. Es
heisst dann, Lehrkräfte sollten einfach weniger selektiv benoten, dann sei das
Problem gelöst. Doch Noten sind grundsätzlich anfällig für Verzerrungen. Das
Problem liegt kaum in der persönlichen Verantwortung der Lehrkräfte.
Bereits wenige Umstände
können dazu führen, dass Arbeiterkinder beim Übertritt ans Gymnasium
schlechtere Karten haben. Ihnen fehlt zum Beispiel die Unterstützung der Eltern
bei den Hausaufgaben, die vorausgesetzt wird. Ihre Eltern können aber auch
nicht einfach Vorbereitungsstunden dazukaufen. Ausserdem treten höhergebildete
Eltern selbstbewusster auf und neigen stärker zu Rekursen. Eine Studie von
Franz Baeriswyl und seinem Team an der Universität Freiburg weist zudem nach,
dass Akademikereltern ihre Kinder eher überschätzen, während für Arbeitereltern
das Gegenteil gilt. Sie attestieren ihren Kindern bei vergleichbaren
Fähigkeiten geringere Begabungen und empfinden eine schlechtere Beurteilung
durch die Lehrperson nicht als ungerecht.
Solche Parameter sind
Störfaktoren, welche die Qualität jedes Übertrittsverfahrens schwächen. In
Kantonen mit einem grossen Mitspracherecht der Eltern ist die soziale
Selektivität beim Übertritt ans Gymnasium grösser als in Kantonen, in denen die
Schule den Übertrittsentscheid allein fällt oder er auf einer Aufnahmeprüfung
basiert. Aber auch beim Modell der Aufnahmeprüfung wirkt der «Elternwille» in
Form von vielen in die Prüfungsvorbereitung investierten Förderstunden.
Die Dirigierfunktion
des Auswahlverfahrens hat weitreichende Konsequenzen, weil der Übergang ins
Gymnasium das wohl wichtigste Nadelöhr für die bessere Ausschöpfung der
intellektuellen Begabtenreserven von Arbeiterkindern ist. Doch bis heute steht
kein gerechtes Aufnahmeverfahren zur Verfügung. Ob notenbasierte
Lehrerempfehlung und Elternmitspracherecht oder eine Prüfung – es gibt keine
wissenschaftlichen Belege dafür, dass das eine oder andere Verfahren zu einem
Abbau der Ungleichheit führt. Weder mit einer seriösen Handhabung der Noten
noch mit einem wissenschaftlich durchdachten System kann man den
Übertrittsentscheid gerecht gestalten – lediglich fairer. Welches Verfahren
gewählt wird, bleibt deshalb eine politische Glaubensfrage.
Die Lösung:
Mentorinnen und Mentoren
Wie kann unsere
Gesellschaft vor diesem düsteren Hintergrund mehr Bildungsaufstiege ins
Gymnasium ermöglichen? Grundsätzlich könnte man die beliebte Forderung
unterstützen, dass es hierfür grosse Anstrengungen in der Sozial- und
Bildungspolitik braucht und keine «Alibi-Reförmchen». Doch inzwischen gilt es
als Tatsache, dass nicht in erster Linie die Bildungsausgaben eine zentrale
Rolle spielen (die Schweiz nimmt hier bekanntlich einen Spitzenplatz ein),
sondern die Einstellung von Leitungsgremien sowie Lehr- und Fachkräften an
Schulen. Deshalb plädiere ich für eine bescheidene und kostengünstige Variante,
die sich auf die Mentoratsfunktion von Erwachsenen konzentriert und im Hier und
Jetzt umsetzbar ist.
Die Forschung belegt
mit einiger Eindeutigkeit, dass intellektuell begabte und akademisch
interessierte Arbeiterkinder ganz besonders auf die Unterstützung solcher
Mentorinnen und Mentoren angewiesen sind. Damit sind keineswegs nur Lehrerinnen
und Lehrer gemeint, sondern auch Trainerinnen und Trainer im Sport,
Musiklehrerinnen, Pfarrer, Schulsozialarbeiterinnen oder Berater. Da
Arbeiterkindern Modelle des sozialen Aufstiegs und oft auch das Zutrauen in die
eigenen Fähigkeiten fehlen, hängt der Erfolg wesentlich von der Unterstützung
solcher Personen ab, die an die Stelle der Eltern als «signifikante andere» ins
Spiel kommen.
Ihre Haltung ist
wichtiger als jede grosse Reform – aber nur, wenn sie gegenüber Arbeiterkindern
herausfordernd sind, damit das Gymnasium eine echte Option werden kann. Der Weg
zu solchen herausfordernden Haltungen bezeichne ich in Anlehnung an die Studie
von Thomas Spiegler als «die drei Schritte zum Bildungsaufstieg». Er umfasst
das Dürfen, das Wollen und das Können.
Mehr Akademikerkinder
in die Berufslehre
Das Dürfen zu fördern
ist die wichtigste Aufgabe von Mentorinnen und Mentoren. Sie haben eine
Schlüsselfunktion, wenn sie Arbeiterkinder ermuntern, sich ihres Potentials
überhaupt bewusst zu werden, sie darin unterstützen, Aspirationen zu entwickeln
und an Visionen zu glauben. Die Haltung «Du schaffst das!» kann für den
Aufstieg entscheidend sein.
Das Wollen gehört ins
Repertoire von Lehrkräften und schulischer Beratung. Gemeint ist, dass sie die
Möglichkeit Gymnasium konsequent mitdenken, sich nicht der Skepsis von
Arbeitereltern anschliessen und das Negativ-Labeling «Lieber ein guter Sekschüler
als ein schlechter Gymnasiast» vermeiden. Man hört noch viel zu oft die
gutgemeinten Ratschläge, solchen Kindern müsse man ein realistisches Bild
vermitteln, wie hoch die Ansprüche am Gymnasium seien, um sie vor dem Scheitern
zu bewahren.
Die vielleicht
schwierigste Aufgabe haben Lehrerinnen und Lehrern, wenn es um das Können geht.
Wollen sie das Können objektiv erfassen, kommen sie nicht darum herum,
Leistungen als Ergebnis von Anstrengung und Übung und nicht von sozialer
Herkunft und familiärer Unterstützung zu betrachten. Solche Lehrkräfte stellen
darum Lernprozesse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt und nicht die Produkte in
Form von Noten oder die Ressourcen der Herkunft.
Das Gymnasium muss
eine Bildungsstätte für intellektuell begabte junge Menschen jeglicher Herkunft
werden. Deshalb muss unsere Gesellschaft das Ziel der Chancengerechtigkeit
verfolgen, definiert als die Ermöglichung und Unterstützung fairer Chancen bei
der Überwindung von Nachteilen und die Ausrichtung auf die Entdeckung von Potentialen.
Wer sich an einem
solchen Verständnis von Chancengerechtigkeit orientiert, bekennt sich dazu,
dass soziale Selektivität kein unabänderliches Schicksal ist. Den Ausschlag bei
der Bildungs- und Berufswahl müssen Neigungen und Fähigkeiten geben, nicht soziale
Herkunft oder familiäre Förderressourcen.
Wenn es so wäre,
würden mehr Jugendliche aus gutsituierten Familien einen Beruf erlernen,
während mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiterfamilien das Gymnasium
besuchen würden. Dies zu bewerkstelligen ist eine der grossen Herausforderungen
der Zukunft.
Margrit Stamm ist emeritierte
Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg.
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