Ein Cervelat, eine Packung Chips, saure Gummi-Apfelringe und eine Feldflasche mit gesüsstem Früchtetee: Was noch bis mindestens in die neunziger Jahre als klassischer Proviant für Schulreisen galt, ist heute verpönt. Zucker und falsches Fett sind böse: Das soll Kindern – und ihren Eltern – heute schon möglichst früh vermittelt werden.
Böse Bananen, nützliche Nüsse: Warum die Zürcher Schulen beim Essen zwischen Gut und Böse unterscheiden, NZZ, 25.1. von Lena Schenkel und Nils Pfändler
Längst warnt nicht
nur die «Zahnfrau» mit dem grossen Gebissmodell und der überdimensionierten
Zahnbürste wegen der Kariesgefahr vor Bananen zum Znüni, sondern auch ein
Flyer, der zumindest in der Stadt Zürich schon Kindergartenkindern mit nach
Hause gegeben wird.
Die grösste Gemeinde
im Kanton liefert sogar «Ideen für gesunde Geburtstagsznünis». Darunter fallen
etwa Popcorn, Butterbrezel oder Rosinenbrötchen. Auf einem anderen
Informationsblatt für Eltern listet der Schulärztliche Dienst auf, wie Feste in
Kindergarten, Schule und Hort «mit Phantasie, Genuss und erst noch gesund»
gefeiert werden können – ohne Süssigkeiten in der Hauptrolle.
Kampf gegen das
Übergewicht
Dass es sich die
Schule zur Aufgabe gemacht hat, Kinder zu einem solchen Essverhalten zu
erziehen, hat mehrere Gründe. Der erste ist gesundheitlicher Natur. Laut einer
repräsentativen Schweizer Studie aus dem Schuljahr 2017/18 weisen rund 10
Prozent der 6- bis 12-Jährigen Übergewicht auf. Etwa 5 Prozent gelten als
adipös, also fettleibig. Jungen sind davon stärker betroffen als Mädchen.
Bei den 9- bis
12-Jährigen sieht es nicht anders aus. Kinder mit Migrationshintergrund und
solche von Eltern mit tieferer Schulbildung haben häufiger Übergewicht und
Adipositas als Schweizer Kinder und solche von Eltern mit höherer Schulbildung.
Das erklärt auch, warum die Tipps und Vorschläge in der Stadt Zürich in zwölf
Sprachen abgegeben werden.
Während sie an die
Eltern explizit nur Empfehlungen richtet, legt die Stadt Zürich seit 2009
verbindliche Ernährungsrichtlinien für ihre Schulen und Betreuungseinrichtungen
fest. Laut Angaben des Schulgesundheitsdienstes waren solche Regeln von der
Lehrerschaft explizit gewünscht worden.
So ist etwa
festgeschrieben, dass das Frühstück im Hort aus einem Getreide- und einem
Milchprodukt, einer Frucht oder einem Gemüse sowie einem ungesüssten Getränk
wie Tee oder Hahnenwasser bestehen soll. Gesüsste Frühstückscerealien,
Nuss-Nougat-Aufstriche oder Gipfeli gehörten dagegen nicht auf den Morgentisch.
Vom Mittagstisch werden Süssgetränke verbannt; Salzstreuer und Aromat sowie
Ketchup und Mayonnaise sollen dort nur in Ausnahmefällen stehen.
Schulen als zweites
Zuhause
Dass sich die Stadt
Zürich im Gegensatz zu anderen Gemeinden im Kanton derart stark engagiert,
begründet sie damit, dass immer mehr Kinder ganztags betreut werden. Dereinst
sollen hier sämtliche Schulen als Tagesschulen geführt werden.
Luzia Müller ist
Ernährungsberaterin beim Schulärztlichen Dienst der Stadt Zürich. Sie sagt:
«Dort, wo an der Schule gegessen wird, steht die Schule in der Verantwortung,
eine kindergerechte und ausgewogene Verpflegung anzubieten.» Das sei im Sinne
der Schule und der Eltern: Sie verbessere – insbesondere kombiniert mit
Bewegung – das Wohlbefinden sowie die Lern- und Leistungsfähigkeit der Kinder.
Die Richtlinien hätten sich mittlerweile bei allen Beteiligten gut etabliert,
sagt Müller. «Vieles ist zur Selbstverständlichkeit geworden.»
Berücksichtigt werden
dabei neben gesundheitlichen (und zahnschonenden) auch ökologische Aspekte.
Schliesslich will die Stadt Zürich dereinst eine 2000-Watt-Gesellschaft sein.
So sollen zum Beispiel Früchte und Gemüse saisonal und regional sein sowie
«möglichst aus fairem Handel» stammen.
Es wird empfohlen,
Fleisch nur zurückhaltend zu konsumieren. Zwei- bis viermal pro Woche soll es
vegetarische Gerichte geben, Fisch nur ein- bis zweimal pro Monat. Mit dem
Flugzeug transportierte Nahrungsmittel gilt es zu vermeiden. Dasselbe gilt für
Food-Waste. Fallen doch einmal Speisereste an, sollen diese möglichst als
Bioabfall entsorgt werden.
Esswaren und Getränke
für die Pausen werden in ein Ampelsystem eingeteilt. Als grün und
uneingeschränkt empfehlenswert sind etwa Nüsse und «saisonale, regionale
Früchte» aufgeführt. Orange und damit nur ab und an empfohlen sind zum Beispiel
exotische Früchte wie Bananen und Mango, Fruchtsäfte oder Weissbrot.
Rot und laut den
Stadtzürcher Ernährungsrichtlinien ungeeignet sind Süssgetränke – ob mit Zucker
oder Süssstoff – wie Milchdrinks oder Cola, aber auch Getreideriegel mit
Zucker- oder Honigzusatz sowie Schokolade.
Die Stadt Zürich will
ein Ernährungsvorbild sein
len./nil. Auch
ausserhalb der Schulen setzt sich die Stadt Zürich für eine gesunde und ausgewogene
Ernährung ein. Basierend auf einer Volksabstimmung von 2017 verpflichtet sie
sich in der Gemeindeordnung, quasi ihrer Verfassung, eine umweltschonende
Ernährung zu fördern und über den Einfluss der Ernährung auf das globale Klima
zu informieren.
Der Zürcher Stadtrat
hat deshalb eine Ernährungsstrategie bis 2030 verabschiedet, an der sich auch
die Schulgesundheitsdienste orientieren. Ziel ist eine «genussvolle, gesunde,
sichere und ressourcenschonende Ernährung». So sollen etwa die 450 städtischen
Verpflegungsbetriebe den Food-Waste verringern, eine ausgewogene Ernährung
anbieten und nachhaltige Produkte bevorzugen.
Noch weiter gehen
wollten letzten Herbst zwei junge Gemeinderätinnen. Elena Marti (gp.) und
Anjushka Früh (sp.) warfen die Frage auf, ob die Stadtzürcher Spitäler und
Altersheime nur noch vegetarisches und veganes Essen anbieten sollen. Der
Stadtrat stellte sich jedoch entschieden dagegen. Zum einen würden
dort kranke und schwerstkranke Personen mit erhöhtem Proteinbedarf behandelt,
deren Appetit oft reduziert sei. Zum anderen bedeute Essen nicht nur Ernährung,
sondern auch Genuss. Gerade ältere Personen bevorzugten häufig Speisen, die sie
kennten.
Der Umgang der
Zürcher Schulen mit dem Thema Ernährung passt nicht allen. Die FDP-Gemeinderätin
und Primarlehrerin Yasmine Bourgeois begrüsst zwar, dass in der Betreuung auf
gesunde Ernährung geachtet wird. Ihr stösst aber sauer auf, wenn dies darüber
hinaus – zum Beispiel im Unterricht – mit ideologischer Aufklärungsarbeit
vermischt wird. «Es ist nicht Aufgabe der Schule, den Kindern zu sagen, was sie
essen dürfen und was nicht», sagt Bourgeois. «Die Schulen sollen sich nicht ins
Private einmischen.»
Sie selber habe
einmal erlebt, wie eine Kindergärtnerin eingeschritten sei, als ein Kind ein
Fruchtpüree als Znüni mitgebracht habe. «Das kannst du gleich wieder einpacken,
das hat Zucker drin», habe sie ihm gesagt – obwohl das Püree gemäss den
Verpackungsangaben gar nicht gesüsst war. Das Kind musste auf seinen Znüni
verzichten.
Ähnlich wie Bourgeois
sieht es der SVP-Gemeinderat Stefan Urech. Der 33-Jährige ist Sekundarlehrer in
Mettmenstetten. Auch ihm ist eine gesunde Ernährung ein Anliegen. Wenn er zum
Beispiel einen Schüler regelmässig mit Chips und Cola auf dem Pausenplatz sehe,
dann suche er das Gespräch mit den Eltern.
Lebensmittel wie
Gipfeli und Süssgetränke ganz vom Menuplan zu verbannen, gehe aber zu weit,
findet Urech. Das sei auch aus pädagogischer Sicht wenig sinnvoll: «Es wäre
doch eine wichtige Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern einen massvollen
Konsum beizubringen.»
Urech hat auch Mühe
damit, wenn vorgeschrieben wird, wievielmal pro Woche Fleisch auf den Teller
kommt. Die zunehmende Verbotskultur könnte darauf hinauslaufen, dass tierische
Produkte irgendwann ganz vom Speisezettel der Schulen verschwänden. «Wenn ich
mir die Mehrheitsverhältnisse im Zürcher Stadtparlament anschaue, dann kann ich
mir vorstellen, dass solche Forderungen früher oder später aufkommen.»
«Vegi-Menu sollte zur
Norm werden»
Damit könnte Urech
recht haben. Im linken Lager finden solche Vorschläge nämlich durchaus Anklang.
Selina Walgis, Gemeinderätin der Grünen, spricht sich zwar ebenfalls gegen
Verbote aus. Die bestehenden Richtlinien gehen der Primarlehrerin in Bezug auf
die tierischen Produkte aber zu wenig weit. «Die Mahlzeiten in den Schulen
müssen nicht ausschliesslich vegetarisch oder vegan sein», sagt Walgis. «Aber
das Vegi-Menu sollte zur Norm werden.» Ein solches Vorgehen würde auch dem
Umstand gerecht werden, dass viele Kinder aus religiösen Gründen bestimmtes
Fleisch nicht essen.
Die Ernährung und die
Gesundheit seien politische Themen, sagt die 28-Jährige – besonders wegen der
Umwelt. «Die Stadt, die Schulen und die Politik tragen eine grosse
Verantwortung. Hier könnte Zürich eine Vorreiterrolle einnehmen.»
Der
SP-Fraktionspräsident Davy Graf teilt diese Meinung. Das Essen in den Schulen
müsse nicht nur ausgewogen sein, sondern auch dem Klimaschutz Rechnung tragen.
«Fleisch- und Milchprodukte sorgen für eine viel grössere Umweltbelastung. Das
ist ein Fakt», sagt Graf.
Vegetarische Essen
sollten deshalb als vollwertige Mahlzeiten anerkannt werden. Das entspreche
auch dem Trend in der Bevölkerung, der Fleischkonsum gehe immer mehr zurück.
«Darum ist es richtig, wenn auch die Volksschule diese Richtung
weiterverfolgt.»
Die Entwicklung hin
zu strikteren Essensregeln dürfte in Zukunft nicht abreissen. Auch in der
Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind eine «ausgewogene Ernährung» sowie
«genussvolles Essen und Trinken» als Teil eines «gesundheitsförderlichen
Lebensstils» ein fester Bestandteil des Unterrichts.
Die Zeiten von
Cervelat, Chips und Cola im Schulhaus, sie dürften gezählt sein.
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