Vor kurzem fragte ich in meiner Klasse, was man eigentlich in seiner Freizeit nach Schulschluss alles tun könne, wozu es keinen Bildschirm brauche. Es wurde zuerst einmal ruhig. Hätte ich meine Schülerinnen und Schüler nach ihnen bekannten Computerspielen oder Social-Media-Plattformen gefragt, wäre ich sofort mit einer Fülle von Antworten eingedeckt gewesen. «Hinausgehen und Fussball spielen», warf schliesslich ein Bub ein, «oder halt das Zimmer aufräumen». Dann meldete sich ein Mädchen und erzählte, dass sie der Mutter beim Kochen und Putzen helfe. Ein Junge pflichtete ihr bei, er koche auch gerne mit dem Vater zusammen und zeichne oft. Ein anderer berichtete vom gemeinsamen Bauen mit Legosteinen mit dem jüngeren Bruder. Ein Mädchen erzählte begeistert von «Scrabble», «Ligretto», «Chicken out», «Halma» und «Die fiesen Sieben», das sie zu Hause spielen würden. In den Gesichtern der anderen Kinder war offensichtlicher Erklärungsbedarf zu erkennen. Das Mädchen erklärte ihnen die verschiedenen Spiele. Ein Junge hatte mittlerweile eine versteinerte, leicht beleidigte Miene aufgesetzt, und man sah ihm an, dass ihn meine Frage störte. Ich kannte seine Freizeitgestaltung und wusste, dass er sehr viel, ja, zu viel Zeit mit Computergames verbrachte. Mit der Zeit kamen doch einige Ideen zusammen, wie man die Freizeit spannend und bildschirmfrei gestalten könnte. Mir fiel jedoch auf, wie wenig Raum das gemeinsame Spielen leider in vielen Familien noch einnahm.
«Scrabble», «Ligretto», «Chicken out», «Halma» und «Die fiesen Sieben» – was ist das? Zeit-Fragen Nr. 27, 1. Dezember 2020, von Eliane Perret
Wie so oft ging mir das Thema
auf dem Heimweg noch nach. War heute das gemeinsame Spielen, zu dem man sich in
der Freizeit verabredet, nicht mehr angesagt? Eigentlich gehört doch das
Spielen zu den wichtigen Tätigkeiten eines Kindes, insbesondere, wenn es klein
ist! Schon Säuglinge spielen mit ihren Händen und Füssen. Angestrengt und doch
vergnügt greifen sie nach allem, was sie erreichen können, und stecken es in
den Mund. So lernen sie ihren Körper kennen und sammeln erste Erfahrungen in
ihrem kleinen Umfeld. Wenn die Kleinkinder später gehen und Gegenstände halten
können, erweitert sich ihr Aktionsrahmen. Sie beginnen zu bauen, zu formen und
verschiedene Materialien auszutesten. Papier wird zerknüllt, zerrissen und
versuchsweise in den Mund gesteckt. Türme aus Holzklötzen entstehen und fallen
unter Getöse und halbernsten Entsetzensrufen wieder zusammen. Mit Papier und
Stiften beginnen sie, ihre Ideen zeichnerisch abzubilden. Und bald schon wird
der Klotz zum Auto und der Stuhl zur Lokomotive, wenn die Kinder mit etwa zwei
Jahren beginnen, ihre Umgebung nach eigenen Vorstellungen zu nutzen. Dabei
spielt die Sprache eine immer wichtigere Rolle. Dieses Symbolspiel erweitert
sich zum Rollenspiel, in dem Personen und Handlungen aus dem Alltagsleben
nachgeahmt werden: «Ich wäre jetzt der Baggerführer, und du kommst mit dem
Lastwagen.»
Ein unvergleichliches Übungsfeld
Diese Formen des Spiels gehören zur Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes und sind ein unvergleichliches Übungsfeld ihrer motorischen, sozial-emotionalen, geistigen und kreativen Entwicklung. Sie erforschen Unbekanntes und probieren neu entdeckte Fertigkeiten aus, bis sie diese «spielend» beherrschen. Mit verblüffender Ausdauer und Begeisterung beschäftigen sie sich mit Spielen, bei denen sie sich bewegen können und die ihnen etwas abfordern. Dabei erleben und schulen sie ihren Körper, beginnen ihn zu beherrschen, erfahren ihre Grenzen und lernen Risiken einzuschätzen. Sie erfahren und verarbeiten eine Fülle von Sinneseindrücken und erweitern ihr Weltwissen. Im Spiel üben sie, sich in andere Menschen einzufühlen, Verständnis zu entwickeln, behilflich zu sein, Konflikte auszuhalten und zu lösen, Enttäuschungen zu ertragen. Das sind wichtige Schritte in der Persönlichkeitsentwicklung. Kinder machen das aus innerem Antrieb, setzen sich dabei mit sich selbst und der Umwelt auseinander, erkennen Zusammenhänge und fassen sie in Gedanken: «Denken heisst forschen, untersuchen, umdrehen, prüfen und ergänzen mit dem Ziel, etwas Neues zu finden oder etwas bereits Bekanntes in einem neuen Licht zu sehen – kurz, es heisst Fragen stellen» (John Dewey). Kein noch so ausgeklügeltes Lernprogramm oder elektronisches Medium kann das ersetzen. Kinder brauchen Spiele – und zwar analog, im tatsächlichen Hier und Jetzt.
Wie machst du es? – Welche
Regel gilt?
Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Wir verbrachten die Pause deshalb im Schulzimmer – bei gemeinsamen Spielen. Die Kinder wählten sich Spiel und Spielpartner aus. Favoriten waren «Uno», «Mühle», «Mikado» und ein Kugelspiel. Zwei Kinder wollten zusammen ein Puzzle machen. In der Ecke der «Uno»-Spielenden wurde es bald unruhig. Offensichtlich waren sie sich über die Regeln uneinig. Ein Kind brachte aus seiner Familie spezielle Regeln mit, die es nun mitten im Spiel – es war am Verlieren – einbringen wollte. Wir überlegten gemeinsam, dass es wohl sinnvoll wäre, die Regeln – durchaus kreativ mit eigenen Ideen ausgestaltet – am Anfang eines Spiels für alle verbindlich abzumachen. Danach ging das Spiel lautstark, aber friedlich weiter.
Auch beim «Mikado» stellten sich ähnliche Fragen. Wer erhielt den Stab, der gewackelt hatte? Mit welchen konnte man spicken, und wie viele Punkte zählten überhaupt die unterschiedlichen Stäbe? Beim «Mühle» Spielen hatte sich ein ungleiches Paar zusammen gefunden. Das eine Mädchen war eine routinierte Spielerin und kannte alle Kniffs und Tricks, das andere hatte es erst wenige Male gespielt. So gewann das eine Mädchen ein ums andere Mal, während das andere bald nicht mehr mitspielen wollte. Zum Rettungsanker wurde die Idee, die überlegene Siegerin könnte doch ihre Freundin trainieren. Sie schluckte ein wenig, aber dann liess sie sich auf diese neue Aufgabe ein. Nun spielten die beiden konzentriert: «Schau, wenn du deinen Stein hierher legst, kann ich eine Mühle schliessen. Du musst ihn besser da hinlegen.»
Auf dem grossen Tisch hatten sich die beiden Kinder mit
ihrem Puzzle eingerichtet. «Ich suche immer zuerst die Randteile», hörte ich.
«Ich schaue die Farben an oder suche Teile zu einer Figur, dann füge ich diese
zusammen.» Mit unterschiedlichen und auch wechselnden Lösungsstrategien kamen
die beiden gut voran, und bald gesellten sich noch andere Kinder
dazu. Mir gingen Erinnerungen an lange Winterabende zu Hause durch
den Kopf, an denen wir miteinander «Eile mit Weile», «Leiterlispiel» oder
«Tschau Sepp» gespielt hatten. Bei diesen Regelspielen war ich wie meine
Schülerinnen und Schüler mit Gewinnen und Verlieren, Glück oder
Geschicklichkeit konfrontiert gewesen. Oft ist es nicht einfach, mit den damit
verbundenen Gefühlen umzugehen – Wut und Enttäuschung, Begeisterung und Freude.
Aber auch das ist ein Lernfeld.
Spielen – ein erster Beruf?
Das Spiel ist im Leben eines Kindes kein Nebenprodukt, sondern ein essentieller Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung. Deshalb ist das Spiel auch seit langem Gegenstand der Spielforschung. In gewissem Sinn ist das Spiel der Beruf des Kindes, insbesondere, wenn es klein ist. Es erkundet und -be-greift die es umgebende Welt und eignet sich damit die Grundlagen des Lernens an. Kinder wollen handelnd tätig werden, entdecken und verstehen, sich mit Unbekanntem vertraut machen, Funktionsweise und Gesetzmässigkeiten herausfinden. Das Spiel wird damit zum Nährboden, auf dem die schulischen und später auch beruflichen Fähigkeiten sich entwickeln können. Dies in einem umfassenden Sinn; es geht um die Ausformung intellektueller, emotionaler, sozialer, motorischer und kreativer Fähigkeiten. Kinder eignen sich im Spiel diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die sie später zu Selbständigkeit, Eigenverantwortung und sozialer Mitverantwortung befähigen. Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungs- und Lebensgestaltung. Nicht nur bei Kindern, sondern auch bei der Betreuung älterer Menschen findet es immer mehr Eingang.
Spielend fördern – digital
oder analog
Heute sind viele Angebote im Umlauf, mit denen eine spielende Förderung von Kindern versprochen wird, viele davon digital. Was ist besser? Eine Empfehlung von Fachleuten fand ich in einem Flyer eines Schulpsychologischen Dienstes: «Wenn Sie also Ihr Kind fördern möchten, sorgen Sie dafür, dass das Spielen in seinem Leben genug Platz hat und dass Filme und Computerspiele niemals mehr Raum einnehmen als spielerische Aktivitäten, damit nicht Anpassung, Langeweile und ein Mangel an Erlebnisfähigkeit die Folge ist. Phantasie ist ein Motor für produktives Denken, für konstruktive Ideen und für Problemlösefähigkeiten, die zusammen mit einer guten Ausbildung und einer gesunden selbstsicheren Persönlichkeit die besten Voraussetzungen für gute berufliche Perspektiven bieten.»
1 Weitere wichtige Hinweise finden sich im Text von Dr. Barbara Ritter (siehe unten).
Unverplante Zeit – ein
Geschenk
Darum ist es wichtig, dass Kinder über ausreichend unverplante Zeit verfügen, die sie eigenverantwortlich und frei von Erwartungen und Leistungsdruck gestalten können. Auch im Schulalter. Sie dürfen und müssen lernen, ihre Zeit zu gestalten, eigenständige Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Das stärkt ihre Fähigkeit, alltägliche Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen. Das bedeutet nicht, das Kind sich selbst zu überlassen oder das Spielzimmer oder den Kindergarten leerzuräumen, damit es «kreativ» werden soll. Denn «das Gras wächst zwar nicht schneller, wenn man daran zieht», wie man heute so oft hört, aber es verkümmert oder geht ein, wenn man es nicht richtig pflegt. Deshalb ist ein echtes Interesse der Eltern an dem, was ihre Kinder tun, unverzichtbar. Und selbstverständlich, wann immer es die Zeit erlaubt, das gemeinsame Spiel. Hat es heute keinen Platz mehr?
Und nun?
Als ich kürzlich nach Hause
kam, sassen auf einem Baum auf dem benachbarten Grundstück drei Kinder.
Sichtlich vergnügt beobachteten sie die Vorbeigehenden, eine Reaktion
erwartend. Ich freute mich. •
1 Schulpsychologischer
Dienst des Kantons St. Gallen.
«Lernen oder Spielen? Kinder
lernen spielend», https://www.schulpsychologie-sg.ch/pic-pdf-liste-themen/Lernen-oder-Spielen.pdf (abgerufen am
23.11.2020)
Folgende Quellen waren mir
beim Schreiben dieses Artikels hilfreich:
•
Everts,
Regula und Ritter, Barbara (2016). Das MemoTraining. Memo, der vergessliche
Elefant. Mit Gedächtnistraining spielerisch zum Lernerfolg. Hogrefe. ISBN:
978-3-456-85697-1
•
Hajszan,
Michaela. «Spielen ist Lernen. Die Bedeutung des Spiels für die kindliche
Entwicklung», www.eltern-bildung.at (abgerufen am 23.11.2020)
•
Krenz,
Armin. «Kinder spielen sich ins Leben – Der Zusammenhang von Spiel und
Schulfähigkeit», www.kindergartenpaedagogik.de (abgerufen am 23.11.2020)
•
Schulpsychologischer
Dienst des Kantons St. Gallen. «Lernen oder Spielen? Kinder lernen spielend», https://www.schulpsychologie-sg.ch/pic-pdf-liste-themen/Lernen-oder-Spielen.pdf (abgerufen am 23.11.2020)
Trainingseffekt
durch Spiel – digital oder analog?
von Dr. phil. Barbara Ritter, Neuropsychologin, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
Die Frage ist, was genau man
mit Spielen trainieren bzw. fördern möchte und mit welchem Ziel. Wenn es darum
geht, spezifisch möglichst effizient kognitive Funktionen zu trainieren, dann
sind Computeraufgaben wahrscheinlich effizienter, weil die Adaptivität und
Spezifikation dort viel besser gewährleistet werden kann. Das funktioniert bei
Erwachsenen sehr gut, wenn sie das Training ernsthaft absolvieren. Bei Kindern
besteht immer die Gefahr, dass sie einfach mit der Zeit nur noch auf dem
Bildschirm herumklicken, und dann verfehlt das digitale Training seinen Zweck.
Manche Online-Trainings haben Feedback-Systeme, so dass Eltern oder Trainer
dies bemerken und eingreifen können. Aber natürlich lernt man bei digitalen
Trainings nichts Soziales. Das Gemeinsame, die Beziehung, Abwarten,
Frustrationstoleranz, Emotionsregulation, Feinmotorik – all das kommt dort
nicht zum Zuge. Das wiederum ist der Vorteil von Gesellschaftsspielen, auch
wenn dort der Trainingseffekt in kognitiver Hinsicht wahrscheinlich etwas
geringer ausfällt, weil der Schwierigkeitsgrad nicht immer optimal ist oder man
(je nach Spiel) nur denken muss, wenn man an der Reihe ist. Gesellschaftsspiele
sind aber grundsätzlich gute Fördermaterialien, weil sie den Alltag über Jahre
bereichern können (noch Grosseltern spielen «Elfer raus» mit ihren Enkeln),
weil man sie gut in den Alltag integrieren kann und sie beiläufig einen
kognitiven Trainingseffekt erzielen. So weiss man beispielsweise aus der
Forschung, dass sich kognitive Funktionen wie das räumliche Denken bei
Primarschulkindern statistisch signifikant mit Spielen fördern lassen und dass
Senioren, welche im Alter häufig Gesellschaftsspiele spielen, im Schnitt
weniger häufig an einer Demenz erkranken. Zudem: Gesellschaftsspiele machen
Spass und fördern das Miteinander, mal ganz abgesehen vom
Trainingseffekt.
Neuere Studien zeigen bei PC-Games ein gemischtes
Bild. So gibt es tatsächlich Funktionen, in denen Gamer besser abschneiden, zum
Beispiel Reaktionsgeschwindigkeit, visuelle Diskrimination oder räumliches
Denken. Ebenfalls sind heutige Computergames in viel höherem Masse interaktiv
als früher, oft spielt man als Team vernetzt und kommuniziert während des
Bestehens der Levels live per Kopfhörer. Es findet also eine soziale
Interaktion statt. Die Gefahr ist aber grösser, dass das Gamen in den
Suchtbereich abrutscht oder eben die Kontakte im realen Leben (also sogenannte
primäre Sozialerfahrungen) dadurch ersetzt werden. Computergames sind nicht per
se schlecht, aber in hohem und vor allem unkontrolliertem Masse bedenklich.
Beim analogen Spielen hingegen sitzt man sich Auge in Auge gegenüber und
erfährt einander in der direkten Interaktion. Wer spielen und fördern
gleichzeitig will, der ist mit der Broschüre «Förderung und Erhaltung von
Hirnfunktionen mit Gesellschaftsspielen» gut bedient. Die Broschüre enthält
Empfehlungen von kognitiv fördernden Gesellschaftsspielen für alle
Altersgruppen und kann kostenlos heruntergeladen werden unter:
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