Kürzlich erzählte mir wieder mal eine Mutter, die Schule habe ihr empfohlen, ihren sechsjährigen Sohn psychologisch abklären zu lassen. Sie wisse ja, ihr Bub sei verträumt und seine Frustrationstoleranz gering. Aber sie habe einfach Mühe damit, dass Eigenheiten, die doch durchaus zu diesem Alter gehörten, so stark problematisiert würden.
"Mit dem Kind stimmt etwas nicht", Tages Anzeiger, 5.12. von Sabine Sommer
Ich konnte ihr Befremden gut verstehen. Uns selbst hatte die
Kindergärtnerin das Formular zur Einwilligung in eine schulpsychologische
Abklärung gerade mal drei Monate nach dem Kindergartenstart zugeschoben. Unsere
fünfjährige Tochter flippe aus, wenn sie die Jacke anziehen soll, renne beim
Znüni aus dem Kreis, und es komme vor, dass sie andere Kinder haue. Die
Kindergärtnerin vermutete eine Entwicklungsverzögerung.
Wir willigten also in Psychomotorikstunden ein,
installierten eine Maltherapie und später auch Sensomotorik, was sich alles als
tolle Sache erwies. Doch uns war klar: Damit ist dann auch einfach mal gut. Wir
wollten unserer Tochter Zeit geben. Denn man bringt Gras bekanntlich nicht
durch Ziehen zum Wachsen. «Jede Sonderbehandlung und Abklärung zeigt dem Kind
unmissverständlich, dass mit ihm etwas nicht stimmt, und hat einen Einfluss auf
den Verlauf seines Selbstwertgefühls», sagte der kürzlich verstorbene
Kinderarzt Remo Largo zum Thema.
Weder ich noch mein Mann waren grundsätzlich gegen weitere Abklärungen.
Aber sicher nicht zu jenem Zeitpunkt. Dafür standen wir ein - was bei der
Schule auf wenig Verständnis stiess. In der Folge rief die Kindergärtnerin
wöchentlich an, um zu berichten, dass das Kind wieder ausgeflippt sei, wieder
nicht ruhig im Kreis sass, wieder Streit mit jemandem hatte.
Bei allem Verständnis brachten mich diese Telefonate
zunehmend unter Druck. Immer mehr glaubte ich, ich müsse mein Kind
«hinkriegen». Immer mehr wurde ich Teil jener Optimierungsmaschinerie, der
gegenüber ich so grosse Fragezeichen hatte.
Als uns die Kindergärtnerin dann täglich eine Bewertung über
das Verhalten unserer Tochter zur Unterschrift zumailte, willigten wir
schliesslich in eine Abklärung ein. Denn eines war uns klar geworden: Die
Schule hat kaum Ressourcen für anspruchsvollere Kinder.
Die Abklärung brachte keine Diagnose hervor. Doch dank ihr
konnte eine Klassenassistenz installiert werden. Von diesem Moment an beruhigte
sich die Situation. Das Ganze war also auch die Folge einer Bildungspolitik,
die Lehrpersonen immer stärker belastet. Hinterfragt werden aber nicht die
Strukturen, sondern die Person und Entwicklung einzelner Kinder.
Heute ist unsere Tochter in der zweiten Klasse. Sie flippt
nicht mehr aus, wenn sie die Jacke anziehen muss, und haut schon lange keine
Gspändli mehr. Ein feinfühliges Kind ist sie noch immer. Doch dank
beziehungsorientierter Lehrpersonen lernt sie immer mehr, diese Stärke für sich
zu nutzen und sie hintanzustellen, wenn sie gerade nicht gefragt ist.
Ja, es ist grossartig, dass Kinder heute gefördert und ihre Probleme ernst genommen werden, Das war viel zu lange nicht der Fall. Aber wir müssen aufpassen, dass wir das Rad nicht zu stark in die entgegengesetzte Richtung drehen. Wir sollten den Kindern unserer Zeit ruhig einmal mehr eine Extra-Portion Vertrauen, Zeit und Gelassenheit schenken.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen