Seit zehn Jahren liegt John Hatties Studie „Visible Learning“ vor. Die
Ergebnisse sind eindeutig: Gründlicher Unterricht ist zielführender als
pädagogische Experimente. Zeit, daraus Konsequenzen zu ziehen, meint Pädagoge
Michael Felten.
Die Bildungsvisionen halten der Wirklichkeit nicht stand, Deutschlandfunk, 19.2. von Michael Felten
Wenn ich heute Schüler wäre, würde mich manches aufregen. Nein, nicht
das frühe Aufstehen – je schneller die Schule hinter einem liegt, umso besser.
Aber wenn dann gleich die ersten beiden Stunden ausfallen, weil es zu wenig
Lehrer gibt – das nervt schon ziemlich. Das bedeutet nämlich Pensum – also
irgendwelche Aufgabenlisten abarbeiten, die nie mehr besprochen werden.
Nach der Pause gleich das nächste Malheur: Die Technik im Computerraum
funktioniert nicht. Zuerst sucht der Lehrer ewig nach dem Problem, dann will er
traditionell unterrichten – aber weil die Tafeln abgeschraubt sind, kann er
keine Stichworte notieren, keine Grafik skizzieren. Schon ätzend.
Dritter Stundenblock, nette Lehrerin – dummerweise aber glaubt die, wir
würden dann am meisten lernen, wenn wir alles selbst herausfinden, noch besser
in Gruppen, die vielleicht sogar dauernd wechseln. Ergebnis: viel Herumgelaufe,
dünne Laberei. Und nachher ist nichts wirklich klar – außer denen, die schon
vorher alles wussten. Dabei dachte ich immer, Lehrer wären dazu da, Neues zu
erklären, Spannendes zu erzählen, passgenaue Hilfen zu geben.
Lehrermangel, Ausstattungsmisere,
Methodenverwirrung
Ein Schulvormittag, drei bildungspolitische Großbaustellen: Lehrermangel,
Ausstattungsmisere, Methodenverwirrung. Für eine aufgeklärte Wohlstandsnation
ziemlich blamabel.
Nun, neue Lehrer lassen sich nicht so einfach herbeizaubern. Geld für
zeitgemäßes Equipment hingegen wäre eigentlich genug da. Vor allem aber:
Unterrichten mit Konzepten, die sich zwar gut anhören, aber oft wenig bringen –
das müsste echt nicht sein, das ließe sich gleich morgen ändern, zudem ohne
weitere Kosten. Immerhin liegt schon seit zehn Jahren die berüchtigte
XXL-Metastudie von John Hattie auf dem Tisch. Aber viele Kultusministerien
wollten die lieber nicht an die große Glocke hängen.
Man kann in jedem System gut lernen
Was der Australier nämlich über die Wirksamkeit schulischer Methoden
herausfand, ließ allerlei Alarmglocken läuten. Etwa, dass das ganze
Gesamtschul-Hickhack den Schülern herzlich wenig bringe – man könne in jedem
System gut lernen, wenn denn die Methoden stimmten.
Nur liegt genau da ein wunder Punkt. Was seit geraumer Zeit hierzulande
heftig beworben wurde, erwies sich in Hatties Forschungsüberblick nämlich
weitgehend als Luftnummer, wenn nicht als Sackgasse: dass die Schüler ihren
Lernprozess möglichst selbst – sogenannt eigenverantwortlich – steuern sollen.
Beste Leistungsergebnisse fand Hattie in Klassen, in denen die Lehrer
strukturiert und abwechslungsreich unterrichteten, in denen es interessante
Fachdebatten und individuelle Unterstützung gab, in denen das Lernklima
fehlerfreundlich war. Auch die Bedeutung des Digitalen für die Schule hat
Hattie recherchiert. Jüngstes Ergebnis: mit wenigen Ausnahmen höchstens
durchschnittliche Lernwirksamkeit.
Plädoyer fürs gründliche Unterrichten
Die Hattie-Studie ist ein großartiges Plädoyer für gründlicheres
Unterrichten. Aber sie spaltet die Bildungsgemeinde auch ein wenig: Eltern, die
Unterrichtsstoff zunehmend mit ihren Kindern nacharbeiten müssen, fühlen sich
bestätigt – ebenso Lehrer, die wider ihr Erfahrungswissen arbeiten sollen.
Die Bildungsindustrie hingegen ist natürlich kaum begeistert, wenn
Lehrkräfte weniger neues Material kaufen, sondern ihre Stunden sorgfältiger
durchdenken. Und einige Bildungsreformer muss es einfach arg geschmerzt haben,
dass ihre Visionen der empirischen Wirklichkeit nicht standhielten.
Aber so ist das eben mit dem Fortschritt: Mitunter besteht er genau in
der Korrektur dessen, was gestern noch der neueste Schrei war. Übrigens kann
gründliches – Fachwort: tiefenwirksames – Unterrichten reichlich anstrengend
sein. In Japan müssen Lehrer deshalb auch nur 17 Stunden unterrichten – statt
bei uns 28.
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