Was tun mit hyperaktiven Kindern? Vielen wird zur Beruhigung das Medikament
Ritalin verschrieben. Alternativ gibt es in der Schweiz nur ein
wissenschaftliches, nichtmedikamentöses Trainingsprogramm.
Ritalin fürs Klassenzimmer, Luzerner Zeitung, 17.1. von Sabine Kuster
Politisch
gibt es Handlungsdruck. Und viele Motionen: «ADHS ist keine Krankheit! Die
wirklichen Ursachen müssen angepackt werden.» Das forderte Nationalrätin Verena
Herzog, SVP. Letzten September wurde ihre Motion vom Ständerat abgelehnt.
Vorstösse zu Ritalin und Kindern mit
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gibt es jedes Jahr im
Parlament.
Der
Bundesrat lehnt die Motionen meist ab, doch in der Beantwortung verweist er auf
ein Forschungsprojekt mit nichtmedikamentösen Behandlungsansätzen, die das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegeben habe. Bloss: Das Projekt mit
dem Namen «Fokus» ist weitgehend unbekannt. Durchgeführt hat es 2016 die
Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Nun wurde die
Weiterbildung für die Sek-I-Stufe ergänzt, die neue Ausbildung startet dieses
Jahr.
Es wird
wenig geforscht
Der
Co-Autor der Studie, Markus P. Neuenschwander, sagt: «Pro Schulklasse gibt es
in der Schweiz durchschnittlich ein Kind mit ADHS, und dennoch widmen sich in der
Schweiz nur wenige Bildungsforscher dem Thema.» Konkret ist Neuenschwander
momentan der Einzige, der das Problem wissenschaftlich und nichtmedikamentös
anpackt. Ratgeber zum Umgang mit hyperaktiven Kindern in Schulklassen gibt es
zwar viele, aber geprüft ist wenig.
Neuenschwander
und Sara Benini erfanden keine neuen Wunderinstrumente, sondern sammelten
bewährte Strategien, um den Unterricht von Kindern mit ADHS zu beruhigen – und
prüften sie. 96 Lehrpersonen der 1. und 2. Klasse setzten diese während eines
Jahres in ihrer Klasse um, während eine Kontrollgruppe mit 39 Lehrpersonen wie
gewohnt unterrichtete.
Zum
Beispiel gestalten die Lehrpersonen das Klassenzimmer so, dass die Kinder auf
häufig begangenen Wegen nicht abgelenkt werden. Verhaltensauffällige Kinder
erhalten Einzelarbeitsplätze. Dies alles, um Konfliktzonen im Raum zu
entschärfen. Und die Lehrpersonen arbeiten bewusst mit Ritualen. Solche machen
den Unterrichtsablauf für die Kinder vorhersehbar und geben ein Gefühl von
Sicherheit. Ausserdem sind sie gemeinschaftsbildend.
Allgemein
wird stark auf klare Aufträge und Regeln geachtet. Wichtig sind dabei die
Wenn-dann-Pläne: Lehrpersonen besprechen mit den Kindern schwierige Situationen
und Verhaltensweisen dafür. «Die Kinder üben so schrittweise, sich und ihr
Verhalten zu steuern», sagt Neuenschwander. «Dies hilft ihnen und entlastet den
Unterricht.»
Für viele
Lehrpersonen sind solche Massnahmen nichts Neues, doch Neuenschwander und
Benini haben bewiesen, dass sie kombiniert tatsächlich wirksam sind: Zwar wurde
es in allen 1. Klassen während dieser Zeit ruhiger – die Schuleinsteiger
gewöhnten sich ein. Bei den Kindern der Experimentalgruppe nahm die
Unaufmerksamkeit aber signifikant stärker ab als bei der Kontrollgruppe.
Bezüglich Hyperaktivität war der Effekt auch vorhanden, aber nur tendenziell.
Einfache
Massnahmen können in Problemklassen eine starke Wirkung entfalten, folgerten
die Studienautoren. Eine weitere Strategie des «Fokus»-Projekts war aber
vermutlich noch effektvoller: die persönliche Einstellung der Lehrpersonen.
Dorothée Pudewell, Primarlehrerin in Dornach SO, sagt: «Es ist wichtig,
Störungen von Kindern mit ADHS nicht persönlich zu nehmen.» Pudewell gehört zu
den ersten Anwenderinnen von «Fokus» und bildet inzwischen selbst Lehrpersonen
aus. Oft seien Unklarheiten und Unsicherheiten Gründe für die Störung. Für
andere Therapieansätze hat Neuenschwander keine nachweisbaren Effekte gefunden.
Zum Beispiel für gewisse gezielte Bewegungsspiele wie das Ausführen von einer
liegenden Acht mit den Armen, was die Koordination beider Hirnhälften fördern
soll. Auch dass phosphatfreie Ernährung oder der Verzicht auf E-Stoffe im Essen
hyperaktive Kinder beruhige, sei durch keine Studien erwiesen.
Der Bund
will «Fokus» nun bekannter machen. Patrick Vuillème, wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim BAG, sagt: «Ritalin ist ein Betäubungsmittel, und auf
Bundesebene haben wir deshalb die Verantwortung dafür. Wenn es zusätzlich zur
Medikation verhaltenstherapeutische Ansätze gibt, dann wollen wir diese unterstützen.»
Ritalin
hat positive Wirkungen
Derweil
reisst die Kritik an Ritalin nicht ab. Doch weder die Studienautoren noch der
Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz wollen das Medikament verteufeln.
Franziska Peterhans, die Zentralsekretärin des Dachverbandes, sagt: «Aus der
Schule wissen wir, dass eine ärztlich indizierte, befristete, sorgfältig
dosierte und überwachte Medikamentenabgabe bei vielen Kindern und auch für
deren Umgebung positiv wirkt.» Sie seien ausgeglichener, könnten sich besser konzentrieren
und würden sozial weniger ausgegrenzt.
Peterhans
findet Weiterbildungen für Lehrer sinnvoll. Bloss sei das jährliche Kontingent
derzeit in vielen Kantonen wegen der Einführung des Lehrplans 21 praktisch
ausgeschöpft. Und Peterhans gibt zu bedenken: «Grosse Klassen mit bis zu 28
Kindern verunmöglichen einen guten Umgang mit ADHS-Kindern.» Zudem seien die
Schulzimmer oft zu klein und die Belastung der Lehrpersonen allgemein zu hoch,
was den ADHS-Kindern schade.
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