Ende 2017 hat die Regierung eine erste Fassung des
neuen Lehrplans vorgestellt. Die Parteien zeigen sich in ihren Stellungnahmen
nicht nur begeistert. An eine kostenneutrale Einführung ohne Abstriche glauben
viele nicht. Sie fürchten um die Qualität.
Kontroverse um Aargauer Lehrplan: mehr Lektionen, aber keine Zusatzkosten? Aargauer Zeitung, 7.2. von Noemi Lea Landolt
Drei Monate hatten Parteien, Verbände und
interessierte Aargauerinnen und Aargauer Zeit, sich zum neuen kantonalen
Lehrplan zu äussern. Diesen hat der Regierungsrat auf Grundlage des
Deutschschweizer Lehrplans 21 ausgearbeitet. Über 400 Stellungnahmen sind beim
Kanton eingegangen, knapp 200 davon von Privaten. Diese Punkte geben zu reden:
Die Regierung will den neuen Lehrplan kostenneutral
einführen. Weil die Stundentafeln dem Deutschschweizer Lehrplan 21 angepasst
werden, haben Aargauer Schülerinnen und Schüler künftig mehr Schule. Je nach
Stufe sind es eine bis sechs zusätzliche Pflichtlektionen pro Woche.
Was sich ändert
Damit sich das ohne zusätzliche Kosten realisieren
lässt, werden Wahlfächer sowie ungebundene Lektionen – also Unterricht in
Halbklassen – teilweise in Pflichtlektionen umgewandelt. Ausserdem will die
Regierung die Weiterbildung der Lehrpersonen und Schulleitungen mit den
bestehenden Mitteln finanzieren.
Die SVP geht in die Opposition. In ihrer
Stellungnahme verlangt sie, von einer Erhöhung der Pflichtlektionen abzusehen.
Sie sehe nicht, womit eine solche Erhöhung gerechtfertigt sein sollte.
Denn: «An Universitäten und Fachhochschulen
schneiden die Aargauer Studenten im Vergleich mit anderen Kantonen gut ab.»
Deshalb pocht die SVP darauf, «dass die ganze Übung kostenneutral erfolgt».
Genau diese von der Regierung angestrebte
Kostenneutralität kritisieren die anderen Parteien. SP, GLP, Grüne, CVP, EVP,
der Aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverband (alv), die Gewerkschaft VPOD
Aargau/Solothurn und Arbeit Aargau glauben nicht, dass eine kostenneutrale
Einführung des neuen Lehrplans ohne Abstriche möglich ist.
Dies, weil der neue Lehrplan und die vorgeschlagene
Stundentafel von Schulen und Lehrpersonen «erhebliche Mehrleistungen
verlangen», wie Arbeit Aargau schreibt.
SP, CVP und EVP befürchten einen Qualitätsabbau,
wenn wegen der Kostenneutralität der Halbklassenunterricht reduziert wird.
«Eine gezielte individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler wird dadurch
eingeschränkt», schreibt die CVP. Die GLP findet es gar «illusorisch, dass die
Regierung ein so wichtiges Bildungskonzept kostenneutral durchsetzen möchte».
Der alv betont, dass die Jahresarbeitszeit der
Lehrpersonen schon heute deutlich überschritten werde, die Reform müsse für
Lehrerinnen und Lehrer deshalb «belastungsneutral sein, was sie in der
vorgeschlagenen Form eindeutig nicht ist».
Für die BDP wäre eine kostenneutrale Einführung
«selbstverständlich erstrebenswert». Sie sei jedoch nicht realistisch, «ohne dass
die Qualität leidet».
Neben der SVP glauben nur noch die FDP, EDU sowie
der Aargauer Gewerbeverband (AGV) an eine kostenneutrale Einführung. Die FDP
merkt an, in der Anhörungsvorlage fänden sich keinerlei Aussagen zu den
Auswirkungen auf die Gemeinden und den Schulraum. Die Reduktion des
Halbklassenunterrichts sowie die Umwandlung von Wahl- in Pflichtfächer dürften
jedoch keine Mehrkosten für die Schulen vor Ort zur Folge haben.
Französisch ab der 5. Klasse
Mit dem neuen Lehrplan möchte die Regierung die
nationale Sprachenstrategie umsetzen. Englisch soll wie bisher ab der 3. Klasse
obligatorisch sein, Französisch neu bereits ab der 5. und nicht erst ab der 6.
Klasse. Für die beiden zusätzlichen Französischlektionen hat der Regierungsrat
beim Grossen Rat einen Verpflichtungskredit von rund drei Millionen Franken pro
Jahr beantragt.
Praktisch alle Parteien begrüssen, dass die
Regierung die nationale Sprachenstrategie umsetzen möchte und verstehen, dass
dafür zusätzliches Geld nötig ist. Sie argumentieren, das frühe Erlernen von
Fremdsprachen sei in der mehrsprachigen Schweiz wichtig für den Zusammenhalt.
FDP und CVP wünschten sich jedoch, dass mittel- bis langfristig wenigstens im
Bildungsraum Nordwestschweiz eine einheitliche Sprachenpolitik verfolgt werde.
Aus diesem Grund lehnt die SVP den
Französischunterricht ab der 5. Klasse ab. Damit werde keine Harmonisierung
herbeigeführt. Schülerinnen und Schüler in den Nachbarkantonen Baselland und
Solothurn würden weiterhin Französisch als erste Fremdsprache lernen. Ausserdem
stellt die SVP grundsätzlich infrage, ob das frühe Lernen von Sprachen sinnvoll
sei. Verschiedene Studien würden das Gegenteil zeigen.
Staatskunde
Politische Bildung ist Teil des neuen Lehrplans.
Die Kompetenzen erwerben die Schüler jedoch nicht in einem eigenständigen Fach,
wie es die Staatskunde-Initiative der Jungen FDP verlangte, sondern
fächerübergreifend. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Initianten mit der
Lösung der Regierung nicht zufrieden sind.
Im Gegenteil: Aufgrund der Aufsplittung auf
verschiedene Sammelfächer in der Oberstufe werde die politische Bildung
insgesamt gegenüber heute sogar geschwächt. Gleicher Meinung ist die CVP. Die
GLP befürchtet, dass sich durch die «Verzettelung» am Schluss niemand wirklich
verantwortlich dafür fühlt und politische Bildung letztlich «sehr heterogen»
unterrichtet werde.
SP, FDP, CVP, GLP und BDP bezweifeln, dass die zur
Verfügung stehenden Lektionen ausreichen, um staatspolitische Themen zu
vertiefen. Sie würden es deshalb begrüssen, wenn die Anzahl Lektionen im Fach
«Räume, Zeiten, Gesellschaften» in der 9. Klasse auf vier Lektionen erhöht
würde. «Diese zusätzliche Lektion kann beispielsweise im 3. Oberstufenjahr dem
Fach ‹Ethik, Religion, Gemeinschaft› entnommen werden», schlägt die FDP vor.
Zufrieden mit der Lösung zeigt sich der Aargauische
Lehrerinnen- und Lehrerverband: Er lehnt ein zusätzliches Fach und damit eine
weitere Fragmentierung des Unterrichts ausdrücklich ab. Wichtig sei aber, dass
die Lehrmittel einen Schwerpunkt auf das Thema legen. Auch die SVP ist mit der
Lösung einverstanden, möchte aber sichergestellt haben, dass der
Staatskundeunterricht «nicht politisch gefärbt ist».
Neue Sammelfächer
Fertigkeiten in Biologie, Chemie, Physik und neu
auch Technik werden in der Oberstufe im Fach «Natur und Technik» unterrichtet.
Geografie, Geschichte, politische Bildung und die Entwicklung von Menschen und
Gesellschaften wird im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» gelehrt. Den
Schulen ist freigestellt, ob sie das Bildungsziel mit Unterricht in
Einzelfächern oder in den Fachbereichen erreichen.
Damit sind die meisten Parteien einverstanden. Die
SVP verlangt, dass die Fächer weiterhin einzeln unterrichtet werden, «um eine
Einheitlichkeit in der Bildungslandschaft Aargau zu erreichen». Die FDP möchte
dies mindestens für die Bezirksschule, mit Verweis auf ihre «progymnasiale
Funktion».
Die Regierung beschliesst im Sommer 2018 den
definitiven Aargauer Lehrplan für die Volksschule – ausgehend von den
Ergebnissen der Anhörung. Im Herbst wird der Grosse Rat über die Finanzierung
der zwei zusätzlichen Lektionen Französisch an der Primarschule abstimmen. Der
neue Aargauer Lehrplan sollte dann im August 2020 in Kraft treten.
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