Deutsche
Schulen müssten digitaler werden, fordern Politiker. Viele Bundesländer stossen
jedoch mit Investitionen in Smartboards, Tablets und schnelles Internet auf
Widerstand.
Arbeit mit Handy und Tablet im Unterricht, Bild: NZZ
Smartphones und Tablets ziehen nur langsam in den deutschen Schulalltag ein, NZZ, 13.2. von Steve Przybilla
Prozentrechnen um acht Uhr morgens ist geistiger Frühsport. Mit müden
Augen sitzen die Schülerinnen und Schüler der Klasse 7b auf ihren Stühlen.
Während es draussen noch dunkel ist, erhellt drinnen das Smartboard in voller
Lichtstärke das Klassenzimmer. «10 Prozent der Jungs haben ein Fahrrad, das
sind 15 Jungs. Wie viele Jungs haben kein Fahrrad?», lautet die Aufgabe, die
der Mathematiklehrer Dietmar Kück seinen Schülern stellt. Kaum steht sie an der
digitalen Tafel, meldet sich ein Schüler: «Herr Kück, mein Tablet ist plötzlich
auf Bulgarisch eingestellt. Was soll ich machen?» Während die restlichen
Schüler die Aufgabe lösen, kümmert sich der 45-Jährige um das Technische.
Die Stadtteilschule Oldenfelde in Hamburg ist eine der digitalsten
Schulen Deutschlands. Etwa 850 Kinder und Jugendliche erleben dort einen
Unterricht, in dem Smartboards, Smartphones und Tablets genauso
selbstverständlich genutzt werden wie Bücher oder Hefte. Überall im Gebäude ist
drahtloses Internet verfügbar. Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten ihre
Aufgaben in einer schuleigenen Cloud. Jeder darf sein eigenes Gerät mit in den
Unterricht nehmen. «Bring your own device» lautet das Motto, kurz: BYOD. Ein
eigenes Gerät zu besitzen, ist Voraussetzung.
Eine Herausforderung für die Schulen
An diesem Morgen ruft Kück ein Youtube-Video auf, in dem die
Prozentrechnung erklärt wird. Als Nächstes sollen die Schüler ihr eigenes
Erklärvideo drehen. Wie genau das geht, erklärt Kück nicht. Es gehört zum
Konzept, dass die Schüler selber ausprobieren, ein Drehbuch entwerfen und die
passende App dafür finden. «Alter, ich bin ein Youtuber!», ruft ein Schüler und
springt vor Freude vom Stuhl. «Ihr dürft auch in die Mensa gehen, um eure
Videos zu drehen», ermuntert Kück. Eigeninitiative ist ihm wichtig.
Obwohl die Szene anfangs etwas chaotisch wirkt, ist die Klasse nach
wenigen Minuten im Youtube-Fieber. Die Jugendlichen laden ihre Videos nicht
wirklich bei Youtube hoch, vielmehr sollen sie in ein gesichertes Netzwerk
gestellt werden, auf das nur Lehrer und Schüler zugreifen können. An der
Stadtteilschule Oldenfelde gelten nicht nur die gewöhnlichen Schulregeln,
sondern auch sogenannte «Klassenregeln» für digitale Medien. Dazu gehört es,
keine Passwörter weiterzugeben, Persönlichkeitsrechte zu beachten und Fotos und
Videos nur dann weiterzuleiten, wenn es die andere Person erlaubt.
Für Dietmar Kück ist allein das ein Grund, Smartphones im Unterricht zu
benutzen. «Wenn man die Geräte gar nicht einsetzt, sind die Schüler sich selbst
überlassen», sagt der Lehrer. «Dann zeigt ihnen niemand, wie man Youtube zum
Lernen nutzt oder Websites kritisch hinterfragt.» Genau dieser Herausforderung
müssten sich die Schulen heutzutage stellen, zumindest im richtigen Mass: «Wir
benutzen auch nicht jede Stunde das Tablet oder Smartphone», sagt Kück.
Der Erfolg ist nur schwer messbar
Wie gut die Digitalisierung wirklich funktioniert, wird in Deutschland
leidenschaftlich diskutiert. Kritiker verweisen gern auf die sogenannte
ICILS-Studie, die 2014 veröffentlicht wurde. In diesem «Computer-Pisa» wurden
Achtklässler in aller Welt auf ihre digitalen Fähigkeiten getestet. Deutschland
erreichte einen Platz unter dem Durchschnitt. So konnten etwa 37 Prozent der
tschechischen Achtklässler gezielt Informationen im Internet finden – in
Deutschland hingegen nur 25 Prozent. Als Reaktion versprachen viele Politiker
eine stärkere Digitalisierung der Schulen, wobei die Umsetzung recht
unterschiedlich klappt, denn in Deutschland sind die einzelnen Länder für
Schulpolitik zuständig. Die FDP druckte im Bundestagswahlkampf ein süffisantes
Plakat. Aufschrift: «Das Digitalste an Schulen darf nicht die Pause sein.»
Auch im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD taucht das Thema auf.
Fünf Milliarden Euro für einen «Digitalpakt#D» soll es ermöglichen, alle
Schulen digital auszustatten. Auch eine «nationale Bildungsplattform» ist
geplant, die mitbestehenden Lernplattformen und Cloud-Lösungen kompatibel sein
soll. Darüber hinaus will die Groko «regionale Kompetenzzentren für
Digitalisierung» etablieren, in der sich Akteure vernetzen. Wer und was damit
genau gemeint ist, wird nicht erläutert.
In Hamburg startete 2014 zu Beginn des Schuljahres ein zweijähriges
Pilotprojekt, in dem die Digitalisierung getestet werden sollte. Sechs Schulen
erklärten sich bereit, bestimmte Lernplattformen zu benutzen und ein WLAN
aufzubauen. Ausserdem sollte es Schülern erlaubt sein, ihre eigenen Geräte mit
in den Unterricht zu bringen. Als Dietmar Kück davon hörte, war er sofort
begeistert. Auch 91 Prozent der Eltern votierten laut Kück für das Projekt.
Trotzdem gab es Vorbehalte, auch innerhalb des Kollegiums: «Von allein passiert
gar nichts», meint Kück. «Wenn überall WLAN verfügbar ist, heisst das noch
lange nicht, dass alle Lehrer es nutzen.»
Als Digitalbeauftragter seiner Schule ist Kück von den Chancen
überzeugt, die die Technik bietet. «Vielen Schülern helfen die Lernvideos»,
sagt der Lehrer. «Sie können lernen, wann und wo sie wollen – in der Pause, an
der Bushaltestelle, zwischendurch. Das Smartphone wird zum digitalen
Assistenten.» Doch lernen die Jugendlichen dadurch auch mehr? «Natürlich haben
wir den Dreisatz auch zu meiner Schulzeit gelernt», sagt Kück. «Aber die Welt
verändert sich eben.» Zugleich räumt er ein, dass der Erfolg nur schwer messbar
sei. Die Universität Hamburg, die das Pilotprojekt wissenschaftlich begleitet
hat, kommt zum gleichen Schluss. «Aus Sicht der Evaluation ist die Laufzeit des
Projektes nicht ausreichend, um die Eignung des Ansatzes [. . .]
abschliessend zu beurteilen», heisst es im Abschlussbericht.
Sorge um die gesundheitlichen Folgen
Weit kritischer sieht Ralf Lankau die Sache. Der Professor für
Mediengestaltung und Medientheorie hat ein Buch geschrieben, in dem er mit der
digitalisierten Bildungswelt abrechnet. «Die Geräteausstattung sagt überhaupt
nichts über die Qualität des Unterrichts», sagt Lankau. «Trotzdem wird immer
mehr Technik in den Unterricht reingedrückt. Da geht es allein um
wirtschaftliche Interessen.» Während in Berufsschulen der Einsatz von
Smartphones oder Tablets noch seine Berechtigung habe, hätten sie in
Grundschulen nichts zu suchen. Um über Datenschutz und Medienkompetenz zu
reden, müsse man Schüler nicht zwanghaft vor den Bildschirm setzen: «Bei der
Suchtprävention schenken wir doch auch keinen Alkohol aus, um möglichst nah
dran zu sein.»
Der Medienwissenschafter spitzt gern zu, doch seine Kritik kommt nicht
von ungefähr. Zum einen warnt er vor der Macht von Weltkonzernen wie Google
oder Facebook, die schon die Jüngsten als Zielgruppe begreifen. Zum anderen
lenkt er die Aufmerksamkeit auf gesundheitliche Folgen. So verweist Lankau auf
die sogenannte Blikk-Studie, bei der Kinderärzte rund 5500
Kinder und Jugendliche in Deutschland untersucht haben. Demnach sind Kinder bis
zum 6. Lebensjahr besonders anfällig für Hyperaktivität und
Sprachentwicklungsstörungen, wenn sie intensiv digitale Medien nutzen. Schon 70
Prozent der Kindergartenkinder spielen laut der Studie täglich über 30 Minuten
mit dem Smartphone ihrer Eltern.
Dietmar Kück hat die Gegenargumente schon oft gehört. Beirren lässt er
sich davon nicht. «Natürlich gibt es Eltern, die das nicht wollen», gesteht
Kück. Durch den Einsatz der Smartphones und Tablets seien seine Schüler nicht
zappeliger als vorher. Zusätzlich spiele die Medienkompetenz eine wichtige
Rolle: «Am Gymnasium nebenan wird gar nicht mit Smartphones gearbeitet», sagt
Kück, «aber da gibt es natürlich auch Cybermobbing. Genau wie an jeder Schule.
Nur wir können darüber reden, weil es im Unterricht zum Thema wird.»
Technik demokratisiert die Schule
In der Klasse 7b schreitet die erste Stunde voran. Die meisten Schüler
sind damit beschäftigt, ihr Lernvideo zu drehen. Manche filmen sich
gegenseitig, andere machen eine Nahaufnahme ihrer Hefte. Was muss ich sagen,
damit mich Gleichaltrige verstehen? Wo ist das Licht am besten? Wie lang darf
das Video maximal sein? Alles Fragen, mit denen sich die Jugendlichen
auseinandersetzen sollen. In der Realität klappt das nicht immer. Manche
entwerfen ein eigenes Drehbuch, andere betrachten Fotos auf ihren Bildschirmen.
«Guck mal, das ist mein Freund», sagt ein Mädchen und kichert. «Der hat nicht
mal Whatsapp.» Bei einer anderen Schülerin klingelt plötzlich das Handy: «Ey,
Mann, das ist meine Mutter. Die soll mich doch nicht einfach anrufen!»
Digitalbefürworter Kück findet, durch die Technik werde die Schule ein
Stück weit demokratisiert. «Manchmal frage ich meine Schüler, mit welcher App
sie ein Video drehen», sagt der Lehrer. «Das wissen die zum Teil besser als
ich. Dadurch entsteht eine ganz andere Arbeitsbeziehung, nämlich auf Augenhöhe.»
Umgekehrt nutze auch er die neuen Möglichkeiten, um Informationen schnell zu
finden. «Wenn mich ein Schüler fragt, wann genau Kopernikus lebte – natürlich
schaue ich dann im Smartphone nach. Ich bin doch kein wandelndes Lexikon.» Im
Prinzip könne man die digitalen Helfer in jedem Fach einsetzen, sogar im
Sportunterricht: «Hochsprung filmen, im Zeitraffer anschauen, Körperhaltung
analysieren.»
Finanzieller Druck auf die Eltern
Die Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vertritt einen
Mittelweg. «Die Digitalisierung kommt sowieso», sagt deren Vorstandsmitglied
Ilka Hoffmann. «Deshalb müssen die Schulen ihre Schüler auch darauf
vorbereiten.» Innerhalb der Lehrerschaft gebe es beide Fraktionen: Befürworter
und Gegner der Digitalisierung. «Wir teilen nicht den Optimismus, dass man
allein durch Online-Kurse soziale Benachteiligung ausgleichen kann», betont
Hoffmann. Gerade schwache Schüler brauchten analoge Hilfe durch den Lehrer.
Heiss diskutiert werde innerhalb der Gewerkschaft die Frage, ob Schüler ihre
eigenen Geräte mitbringen sollten. «Ich persönlich plädiere für Tablets, die
als Klassensatz angeschafft werden», sagt Hoffmann. Andernfalls könne es zur
sozialen Selektion kommen – und zur Mehrarbeit für Lehrer, die Software auf
allen möglichen Geräten installieren müssten.
Kommt die Digitalisierung voran, oder ist das Digitalste an der Schule
doch der Pausenhof? «Die Ausstattung ist sehr unterschiedlich», sagt Hoffmann.
Sogar innerhalb der Bundesländer gebe es Unterschiede. In manchen Schulen
spendeten Eltern Computer für eine ganze Klasse, in anderen brächten Lehrer
ihre eigenen ausrangierten Geräte mit. «Natürlich gibt es auch Schulen, die auf
Sponsoring setzen», sagt Hoffmann. «Das sehen wir aber kritisch.»
Auch in der 7b gehen die Meinungen durchaus auseinander. So gerne die
Schüler mit ihren Handys spielen, so gerne legen sie ihre Geräte auch einmal
zur Seite. «Mit dem Handy arbeite ich besser», findet der 13-jährige Mecit.
«Beim echten Schreiben tut mir der Arm immer weh.» Vasillea, ebenfalls 13 Jahre
alt, schreibt hingegen lieber mit Stift und Papier, während es bei Max auf den
Tag ankommt: «Der Touchscreen geht nicht immer. Dann nehme ich lieber das Heft.
Zum Glück dürfen wir uns das aussuchen.»
In der Pause wird trotzdem noch
gespielt
Dietmar Kück sind Rückmeldungen wichtig. «Geht mal auf die
Lernplattform, und gebt euer Feedback ab», sagt er am Ende des Unterrichts.
«Die Stunde war scheisse», brüllt eine aufgekratzte Schülerin. Kück kontert:
«Dann schreib es auf die Lernplattform.» Fünf Minuten später, in der Pause, ist
die 7b kaum zu bremsen. Mehrere Kinder fahren mit dem Tretroller über den
Schulhof. Zwei Jungs prügeln sich. Die anderen spielen Softball. Nur die
Handys, die hat in diesem Moment niemand in der Hand. «Die haben sich schon im
Unterricht genug damit beschäftigt», sagt Dietmar Kück. Er sieht sich
bestätigt: Die digitale Schule funktioniert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen