Realität des Bildungsgeschehens aus ideologischen Gründen ausgeblendet
Bildung ist in aller Munde. Es gibt
kaum einen Begriff, der in unterschiedlichen Zusammensetzungen so universell
eingesetzt werden kann wie der Begriff der Bildung. Bildungseinrichtungen,
Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsreformen, Bildungskatastrophen,
Bildungsexperten, Bildungspolitiker, Bildungsverlierer, Bildungsgewinner und
andere Bildungskombinierer beherrschen die Szene des Bildungsdiskurses, der
rasche Wandel von Bildungskonzepten und Bildungsutopien ist längst zu einem
prominenten Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden.
Bildung bedeutet Begabung zum Menschsein, NZZ, 16.10. von Konrad Paul Liessmann
Ob man Kindergärten als
Bildungseinrichtungen verstehen soll, auf welchem Platz ein Land beim Pisa-Test
landet, wozu die Umstellung des Unterrichts auf die Kompetenzorientierung
führt, wie Bildungsdefizite von Migranten und sozial diskriminierten Menschen
ausgeglichen werden können, welche Bildung für die Arbeitsplätze der Zukunft
fit macht, wie man Begabungsreserven entdeckt und abschöpft, ob in der
Digitalisierung der Bildung und der Ausstattung von Schulen mit Tablets das Heil
zu suchen ist, ob die Rolle des Lehrers sich wandelt und in Zukunft
Lernbegleiter, Coachs und Sozialexperten das Bildungsgeschehen dominieren
werden, ob es überhaupt notwendig ist, im Informationszeitalter noch Wissen zu
vermitteln – all diese Fragen, die beliebig vermehrt werden können,
beschäftigen die Menschen in immer höherem Masse.
Gleichzeitig
zeigen diese Fragen aber auch, dass der Begriff der Bildung selbst höchst
unscharf geworden ist und schon lange keine Einigkeit mehr darüber herrscht,
was man darunter eigentlich verstehen soll: Qualifikation, Kompetenztraining,
Persönlichkeitsbildung, Orientierungsfähigkeit, Befähigung zur politischen
Partizipation, Schulung von Verantwortung, Vermittlung von Werten oder doch
auch noch Wissenserwerb: Bildung ist alles, und alles ist Bildung. Wenn etwas
alles ist, ist es aber nichts. Bildung ist eine leere Begriffshülle geworden,
die von jedem nach Belieben und je nach politischer oder ökonomischer
Interessenlage gefüllt werden kann. Eine Besinnung auf die grundlegenden
Bedeutungen von Bildung, ihre Ansprüche, aber auch ihre Grenzen täte dringend
not.
Welche Bildungskrise?
Gespielt
aber wird ein anderes Spiel. Zuerst wird aufgrund höchst zweifelhafter
Kriterien und in der Regel plakativ verkürzter Testergebnisse eine Krise des
Bildungssystems nach der anderen beschworen, um dann das Mantra der notwendigen
Bildungsreform anzustimmen und dabei die gerade angesagten Moden zu
propagieren. Erst jüngst verkündete das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in
einer Titelgeschichte, «wie Bildung endlich gelingt». Und wie gelingt sie:
indem man auf Digitalisierung, Chancengleichheit, Inklusion, Ganztagsschule,
gutes Essen und eine Lehrerausbildung setzt, die davon ausgeht, dass angehende
Lehrer von dem Fach, das sie unterrichten, nicht unbedingt viel verstehen
müssen, Hauptsache, sie sind sozial kompetent.
Niemandem
fällt auf, dass es bei all diesen guten Ideen um alles Mögliche gehen mag – um
Interessen der Internetkonzerne, um geschönte Statistiken, um sozialromantische
Utopien und um beeindruckende Abiturnoten – aber nicht um Bildung. Und
niemandem fällt auf, dass eine Reihe dieser Konzepte gegen jene empirischen
Daten durchgesetzt werden sollen, die sonst eine evidenzbasierte
Bildungspolitik gerne beschwört. Mit anderen Worten: Die Realität des
Bildungsgeschehens wird aus ideologischen Gründen in der Regel ausgeblendet,
über Bildung wird nur in Euphemismen gesprochen.
Dass
Tablet- und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog
unterrichtete Kinder, wird ebenso ignoriert wie die gravierenden Probleme, die
der Inklusionsimperativ für alle Beteiligten und Betroffenen geschaffen hat.
Und dass die Lese- und Denkschwächen von Kindern und Jugendlichen auch mit
einer verheerenden Erleichterungsdidaktik zu tun haben, die von der unseligen
Rechtschreibreform bis zur «Leichten Sprache» alles tut, um Bildung als ein
anspruchsloses Angebot für Anspruchslose zu installieren, sollte langsam ins
allgemeine Bewusstsein rücken. Wer etwas für das Bildungswesen tun will, soll
es mit solchen und ähnlichen Reformen verschonen.
Durch die Wende zur Kompetenzorientierung
im Zuge des Pisa-Tests, die damit verbundene Reduktion von Bildung auf einige
wenige «Kernkompetenzen» und die Hoffnung, dass die Digitalisierung schon alle
sozialen und didaktischen Probleme des Unterrichts lösen werde, wurden all jene
Dimensionen gekappt, die zur Idee einer allgemeinen Menschenbildung gehörten,
die zwar schon von Wilhelm von Humboldt gefordert wurde, aber gerade heute
wichtiger denn je erscheint. Zu dieser gehört nicht nur die Beherrschung der
grundlegenden Kulturtechniken – die selbst noch gar keine Bildung, sondern eine
ihrer Voraussetzungen darstellt –, sondern auch jene grundlegenden Kenntnisse
und Fähigkeiten, auf die manche Bildungsreformer gerne verzichten möchten. All
das, was lange den Kern allgemeiner Bildung ausmachte – Fremdsprachenkenntnisse,
historisches Wissen, literarische und ästhetische Kenntnisse und Fähigkeiten,
kulturelles und religiöses Wissen –, spielt bei Pisa keine Rolle. Wie
beschränkt muss man selbst schon sein, um den Pisa-Test als Indikator für den
Zustand von Bildung zu akzeptieren?
Kompetenzorientierung und
Digitalisierung sollen angeblich fit machen für die Arbeitsplätze der Zukunft.
Abgesehen davon, dass Bildung nie eindimensional auf die Erfordernisse der
Ökonomie bezogen werden darf, stimmt dieser Ansatz überhaupt nicht. Wer nur
Kompetenzen schulen möchte, vergisst, dass diese nie Ziel, nur Mittel sein
können, um sich ebenjene Kenntnisse anzueignen und mit jenen Fragen
auseinanderzusetzen, die unsere Kultur in all ihren Spannungen charakterisieren
und in Zukunft bestimmen werden. Schon Hegel wusste, dass der Geist junger
Menschen, der frei und neugierig ist, einen Stoff benötigt, an dem er sich
nähren, schärfen, entzünden, wachsen und abarbeiten kann. Über diesen Stoff,
also um die Frage, was gelernt und vermittelt werden soll, sollte es vorrangig
in Bildungsdebatten gehen, und nicht nur um die Frage, in welcher
Organisationsform, sozialen Zusammensetzung, mit welchen Chancen und mit
welchen digitalen Hilfsmitteln gelernt oder auch nicht gelernt wird.
Befindlichkeitspädagogik
Illustrieren
liesse sich dies am gegenwärtigen Hype um die Digitalisierung der Bildung.
Neben all den wichtigen lernpsychologischen Einwänden gegen einen zu frühen
Einsatz digitaler Geräte im Unterricht, neben dem ebenso wichtigen Hinweis,
dass der zu Recht geforderte kritische Umgang mit Internet, sozialen Netzwerken
und digitaler Lebenswelt eine Distanz zur Voraussetzung hat, die ihr Fundament
in der analogen Welt haben muss, spricht vor allem eines gegen die These, dass
die Digitalisierung des Unterrichts auf die neue Arbeitswelt vorbereitete:
Digitalisierung bedeutet, alles zu automatisieren, was automatisiert werden
kann, alles zu vernetzen, was vernetzt werden kann.
Wohl werden für die Pflege dieser
Technologien immer eine Handvoll Techniker und Experten gebraucht werden, auf
den Arbeitsmärkten der Zukunft werden aber jene jungen Menschen die besten
Chancen haben, die Kenntnisse und Fähigkeiten aufweisen, die entweder nicht
digitalisiert werden können oder die Digitalisierung kritisch und reflektierend
begleiten. Ein avanciertes Konzept der klassischen Bildung wäre dazu nicht der
schlechteste Ansatz.
Man muss der Idee von Bildung nicht
zutrauen, alle Probleme dieser Welt zu lösen. Bildung ist kein säkularer Ersatz
für die Heilsversprechen der Religionen, auch wenn der Gestus des Erlösers von
Bildungsexperten gerne in Anspruch genommen wird. Aber Bildung ist auch nicht
auf Qualifikationsmassnahmen, Zertifizierungsverfahren, künstliche Wettbewerbe,
Chancenverteilung, Steigerung von Absolventenzahlen um jeden Preis und
hemmungslose Produktion von Kompetenzen zu reduzieren. Bildung hat mit der
Entwicklung von Persönlichkeiten zu tun, sie hat mit der Vermittlung jener
geistigen Fundamente zu tun, auf denen unsere Zivilisation aufbaut, und sie hat
mit jenen Kenntnissen, Techniken und Fähigkeiten zu tun, die schlechterdings
notwendig sind, um sich in dieser Gesellschaft zu orientieren und sich als
selbstbewusster und mündiger Bürger zu behaupten.
Anleitung zur Mündigkeit
Bildung hat
deshalb immer auch mit dem Sichabarbeiten an Normen und Standards zu tun, zu
dem durchaus die Auseinandersetzung mit kanonischen Werken, Texten und Theorien
gehört. Der Leistungsgedanke kann deshalb ruhig wieder ein wenig reaktiviert
werden, Ziele dürfen vorgegeben und Wissen abgeprüft werden – und zwar nicht,
um irgendwelchen Test- oder Kompetenzüberprüfungs-Kriterien zu genügen, sondern
weil es die Logik einer Sache, der Anspruch eines Inhalts, die Struktur eines
Gegenstandes verlangen. Wem es um die Sache der Bildung geht, der muss
gleichermassen vom Gedanken künstlicher Wettbewerbe und einer haltlosen
Befindlichkeitspädagogik Abstand nehmen.
Alle
Kenntnisse, alle Fähigkeiten, die im Zuge eines Bildungsprozesses angeeignet,
erworben, geübt und weiterentwickelt werden, dienen nicht nur der Eingliederung
eines Menschen in eine vorgegebene Welt, sondern sind auch Vorbedingung für die
Formung einer mündigen Person. Letztlich bleibt Bildung, nach einem Wort des zu
Unrecht vergessenen kritischen Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn, der «Versuch,
den Menschen zum Menschen zu begaben», ein Versuch, der gegen alle Formen des
Trainings, der Qualifikation und Talentpflege das unverstellte Menschsein im
Auge hat, ein Versuch, von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen
kann. Aber es ist der einzige Versuch, der einen Versuch wert ist.
Konrad Paul
Liessmann ist
Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Soeben ist beim
Wiener Zsolnay-Verlag der Band erschienen: «Bildung als Provokation». Der
Beitrag ist die überarbeitete Fassung seines Referats am NZZ-Podium Berlin vom
4. 10. 17 zum Thema «Bildung».
An alle Bildungspolitiker, Bildungsverwalter und Bildungsplaner: "Die Realität des Bildungsgeschehens wird aus ideologischen Gründen in der Regel ausgeblendet, über Bildung wird nur in Euphemismen gesprochen. Dass Tablet- und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog unterrichtete Kinder, wird ebenso ignoriert wie die gravierenden Probleme, die der Inklusionsimperativ für alle Beteiligten und Betroffenen geschaffen hat. Und dass die Lese- und Denkschwächen von Kindern und Jugendlichen auch mit einer verheerenden Erleichterungsdidaktik zu tun haben, die von der unseligen Rechtschreibreform bis zur «Leichten Sprache» alles tut, um Bildung als ein anspruchsloses Angebot für Anspruchslose zu installieren, sollte langsam ins allgemeine Bewusstsein rücken. Wer etwas für das Bildungswesen tun will, soll es mit solchen und ähnlichen Reformen verschonen."
An alle Bildungspolitiker, Bildungsverwalter und Bildungsplaner: "Die Realität des Bildungsgeschehens wird aus ideologischen Gründen in der Regel ausgeblendet, über Bildung wird nur in Euphemismen gesprochen.
AntwortenLöschenDass Tablet- und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog unterrichtete Kinder, wird ebenso ignoriert wie die gravierenden Probleme, die der Inklusionsimperativ für alle Beteiligten und Betroffenen geschaffen hat. Und dass die Lese- und Denkschwächen von Kindern und Jugendlichen auch mit einer verheerenden Erleichterungsdidaktik zu tun haben, die von der unseligen Rechtschreibreform bis zur «Leichten Sprache» alles tut, um Bildung als ein anspruchsloses Angebot für Anspruchslose zu installieren, sollte langsam ins allgemeine Bewusstsein rücken. Wer etwas für das Bildungswesen tun will, soll es mit solchen und ähnlichen Reformen verschonen."