Der Bund
drängt die Kantone, bereits in der Primarschule Französisch zu unterrichten.
Dabei übersieht er, dass in vielen Realschulen kaum Französisch gelehrt wird.
Auch garantiert ein früher Beginn keinen umfassenden Unterricht.
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Disziplinierung des Thurgaus im Fremdsprachenunterricht ist gescheitert, Bild: Gaetan Bally
Vom Frühfranzösisch geblendet, St. Galler Tagblatt, 3.8. von Roger Braun
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Das Frühfranzösisch ist daran, die Schweiz zu spalten. Seit der Kanton
Thurgau entschieden hat, dass er in der Primarschule ab 2018 kein Französisch
mehr unterrichten wird, gehen die Wogen hoch. Nachdem es die Konferenz der
kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) nicht geschafft hat, den Thurgau zu
disziplinieren, greift nun der Bund ein. Im Juli hat Innenminister Alain Berset
drei Reformvarianten vorgelegt. Jede zwingt den Thurgau, das Französisch in der
Primarschule wieder einzuführen – genauso wie die Kantone Uri und Appenzell
Innerrhoden, die den Französischunterricht auf der Primarstufe gar nie kannten.
Sowohl die EDK als auch Berset sehen in der Verschiebung des Französisch auf
die Oberstufe eine rote Linie überschritten. Ist das gerechtfertigt? Ein Blick
auf die Praxis in den Kantonen lässt daran zweifeln.
Uri als Schlusslicht
Unsere Zeitung hat die Stundentafel aller Deutschschweizer Kantone
ausgewertet, um die unterschiedliche Bedeutung des Französischunterrichts
aufzuzeigen. Was wenig überrascht: Je näher ein Kanton an der
Romandie ist, desto mehr Französisch wird gelehrt. Gemessen an der Zahl der
Wochenstunden schwingen die zweisprachigen Kantone Bern, Freiburg und Wallis
sowie die Kantone in unmittelbarer Nähe zum französischen Sprachgebiet wie die
beiden Basel oder Solothurn obenaus.
Am unteren Ende der Tabelle stehen Kantone der Zentralschweiz, der
Aargau, Innerrhoden und St. Gallen. Ein Spezialfall ist Graubünden, wo ein
Schüler seine obligatorische Schulzeit ohne eine einzige Stunde Französisch
durchlaufen kann, der Italienischunterricht allerdings einen hohen Stellenwert
hat. Der Kanton Uri kann dies nur beschränkt für sich in Anspruch nehmen. Zwar
wird bereits in der Primarschule Italienisch als Wahlpflichtfach angeboten,
doch obligatorisch ist es nicht, das Fach wird in der Oberstufe gar zum reinen
Wahlfach.
Die Realschüler vergessen
Doch diese Zahlen erzählen nur einen Teil der Geschichte. Nämlich jene
des besseren Teils der Oberstufe, der Sekundarschüler. Kaum Erwähnung findet die
Realschule für schlechtere Schüler. Hier hat sich in den letzten Jahren
Bemerkenswertes getan. Mit dem Aufkommen des Englischen hat sich das
Französisch immer mehr zurückgezogen – ohne dass dies in der Öffentlichkeit
diskutiert worden wäre. Beispiel St. Gallen: Für die Realschüler ist nach dem
7. Schuljahr bereits Schluss mit Französisch. Das heisst, Realschüler müssen
mit insgesamt acht Wochenlektionen Französisch auskommen. Noch extremer der
Kanton Aargau: Hier müssen einem Realschüler insgesamt vier Wochenstunden
Französisch ausreichen, um die Sprache Voltaires zu erlernen. Auch in
Appenzell-Innerrhoden ist Französisch bestenfalls Wahlfach für schwächere
Schüler der Oberstufe. In weiteren Kantonen sinkt Französisch in der Realschule
zum Wahlpflichtfach ab. In manchen Kantonen können sich die Schüler in
begründeten Fällen mit Unterschrift der Eltern auch vom Französischunterricht
dispensieren lassen.
Der gesetzliche Auftrag an die Kantone ist klar: Bis zum Ende der
obligatorischen Schulzeit müssen Schüler über Kompetenzen in einer zweiten
Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen. Gerade in der
Realschule scheinen sich die Kantone von diesem Ziel verabschiedet zu haben.
Augen zu und durch bei der EDK
Christoph Eymann ist Präsident der kantonalen Erziehungsdirektoren. Er
sagt: «Das ist ganz sicher nicht die Idee.» Das Ziel gelte für alle. «Genauso
wie die Sekundarschüler sollten auch die Realschüler am Ende der
obligatorischen Schulzeit die französische Sprache beherrschen, denn für viele
Berufe ist die zweite Landessprache sehr wichtig.» Dass es damit viele Kantone
nicht so genau nehmen, bedauert er. «Aber wir haben derzeit keine Handhabe
dagegen. Die Ausgestaltung des Französischunterrichtes in der Realschule war
kein Thema bei der Harmonisierung.» 2004 war es den Kantonen gelungen, sich zu
einem Sprachenkompromiss durchzuringen. Demnach sollen in der Primarschule zwei
Fremdsprachen gelehrt werden, wovon eine eine Landessprache sein muss. Wie
viele Stunden unterrichtet werden – und inwiefern die Realschule und die
Sekundarschule anders behandelt werden –, ist kein Thema in der Übereinkunft.
Prügelknabe Thurgau
Macht es Sinn, sich einseitig auf den Zeitpunkt des Spracherwerbs zu
fixieren? Wäre es nicht besser, die Zahl der Wochenstunden – unter Berücksichtigung
der Realschule – heranzuziehen, um die Qualität des Französischunterrichts zu
beurteilen? Diese Frage ist von politischer Relevanz. Der Kanton Thurgau zum
Beispiel fällt mit seinen 14 Wochenstunden Französisch nicht aus dem Rahmen –
umso mehr als diese auch für Realschüler verbindlich sind.
Christoph Eymann räumt ein, dass ein differenzierter Ansatz mit
Wochenstunden und unter Einbezug der Realschule sinnvoll wäre, doch er sagt
auch: «Wir sind derzeit nicht in der Phase, neue Regeln zu definieren.» Eine
neue Einigung mit verfeinerten Kriterien hält er für unrealistisch, «es ist
schon genug schwierig, den beschlossenen Sprachenkompromiss durchzusetzen». Die
EDK konzentriert sich demnach darauf, dass bereits in der Primarschule eine
zweite Landessprache gelernt wird. Dieselbe Stossrichtung verfolgt der Bund.
Letzten Monat hat der Bundesrat eine Gesetzesanpassung in die Vernehmlassung
gegeben, die genau das vorsieht.
Auf den Umstand, dass heute in vielen Realschulen kaum Französisch
gelehrt wird und die Zahl der Wochenstunden nur bedingt mit einem frühen
Französischunterricht zusammenhängen, mochte der Bund nicht detailliert
eingehen.
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