Aha, der Bundesrat macht
also inhaltslose Symbolpolitik und jagt dem Mythos des nationalen Zusammenhalts
nach, statt sich an lernwissenschaftliche Fakten zu halten. So lautet, auch im
«Tages-Anzeiger», das überwiegende Deutschschweizer Echo auf den Bundesratsentscheid,
die Kantone nötigenfalls zum Französisch in der Primarschule zu zwingen. Das
ist zu kurz gedacht.
Ariane Gigon ist Deutschschweizkorrespondentin der Freiburger Zeitung "La Liberté" und wohnt in Zürich, Bild: Tages Anzeiger
Es geht um mehr als "Symbolik", Tages Anzeiger, 30.7. von Ariane Gigon
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Zunächst:
Es geht nicht darum, wie manche Kommentatoren schreiben, Frühfranzösisch neu
einzuführen. Französisch ab der 5. Klasse ist in der Deutschschweiz in den
80er-Jahren eingeführt worden. Die Strategie der Erziehungsdirektorenkonferenz
mit zwei Fremdsprachen, davon eine Landessprache, in der Primarstufe ändert für
Französisch in der Mehrheit der Deutschschweizer Kantone gar nichts. In den
sechs Kantonen an der Sprachgrenze wurde es in die 3. Klasse vorgezogen. Die
Strategie ist in 23 von 26 Kantonen Realität. Von einer «gescheiterten»
Koordination kann nicht die Rede sein.
Neue Perspektiven öffnen
Jetzt
hört man aber in der Deutschschweiz, es sei ja nicht so schlimm, wenn ein
Kanton vom gemeinsamen Weg abweiche, das könne doch nicht die «nationale
Kohäsion» in Frage stellen, der Streit sei nur «symbolisch».
Das
ist aus zwei Gründen falsch: Erstens will nicht nur der Thurgau seine
Sprachenstrategie ändern. Bestrebungen sind auch in anderen Kantonen im Gange,
wie Luzern und Zürich. Weitere dürften dazukommen. Wichtiger ist aber der
zweite Grund: Es ist nicht bloss eine «Symbolfrage», miteinander in einer
unserer Landessprachen reden zu können. Es ist wirtschaftlich interessant,
persönlich bereichernd und öffnet allgemein neue Perspektiven. Es macht Spass,
eine andere Sprache zu lernen, egal welche. Natürlich gibt es mehr oder weniger
begabte Leute, wie in jedem Fach, und mehr oder weniger motivierte Lehrkräfte –
das alles macht viel aus. Es ist immer möglich, Lernpläne und Methoden zu
verbessern.
Gegen
Frühfranzösisch wird auch ins Feld geführt, es bleibe bei den Kindern nichts
davon hängen, an der Oberstufe müsse wieder bei null begonnen werden. Wieso
sagt man aber nie, dass der Mathematikunterricht nicht funktioniert, obwohl
viele von uns ein paar Jahre nach der obligatorischen Schulzeit nichts mehr von
Trigonometrie wissen?
Studien sind
widersprüchlich
Ja,
es gibt die Studien, die den Wert des Spracherwerbs in der Primarschule infrage
stellen. Es gibt aber auch viele andere, die den Nutzen durchaus nachweisen.
Was man aber ohne Studie klar sagen kann: In der Pubertät mit Französisch zu
beginnen, und dazu noch intensiv, wie die Thurgauer es vorschlagen, führt, wenn
man noch Deutschlektionen und Englisch dazuzählt, zu einer
Sprachenüberbelastung der Schülerinnen und Schüler. Es ist kein Zufall, dass
die Industrie- und Handelskammer Thurgau sich gegen die Abschaffung des
Frühfranzösisch in der Primarschule wehrt, weil das die
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer an der Oberstufe schwächen würde.
Nein,
die «frankofone Bildungselite» hat keine Mühe, den rasanten Bedeutungsverlust
des Französischen in der heutigen Welt zu verkraften. Darum geht es nicht.
Überall in Europa bemüht man sich, die Schulprogramme so anzupassen, dass so
schnell wie möglich zwei Fremdsprachen unterrichtet werden. Überall in Europa
und in der ganzen Welt wird die Schweiz für ihre Sprachkenntnisse bewundert.
Und das sollte nur «symbolisch» sein? Das zu behaupten ist ein Affront, nicht
primär gegen die Westschweiz oder gegen das Tessin, sondern gegen die
«Willensnation» an sich und auch gegen die Fähigkeiten – und die Zukunft – der
Kinder.
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